Neue Details zum rätselhaften Tod FCM-Fan Hannes S: Rätselhafter Tod trotz neuer Details, die Familie leidet
Magdeburg/Halle (Saale) - Der junge Mann mit der schwarzen Weste grinst auf dem Foto. Seine Wangen sind gerötet, die rechte Hand hält er nach vorn und streckt den Daumen nach oben. Er heißt Hannes Schindler. Um ihn herum stehen drei Freunde.
Die Jungs sehen vergnügt aus - als hätten sie einen guten Abend gehabt, als hätten sie einen guten Tag erlebt. Das Bild entstand am 1. Oktober 2016. Damals spielte um 14 Uhr der 1. FC Magdeburg gegen Holstein Kiel. Fußball, 3. Liga, ein Heimspiel. 15.124 Zuschauer sehen den 1:0-Sieg des FCM im Stadion. Hannes Schindler ist einer von ihnen.
Gegen Kiel steht der 25-Jährige im Ultra-Block - wie eigentlich immer. Er ist glühender Fan der Blau-Weißen. Auf seine Brust hat er sich das Logo des Clubs aus der Landeshauptstadt tätowiert. Nach dem Sieg fährt er kurz nach Hause. Schindler wohnt in Barleben, von wo aus er mit drei Freunden weiter nach Haldensleben zieht (beides Börde).
Die Kreisstadt ist 18 Zugminuten entfernt. Die Jungs haben Spaß - das zeigt das Foto. Es entstand im Haus des Rassegeflügelzuchtvereins Haldensleben. Auf dem Tisch vor Hannes Schindler und seinen Begleitern stehen zwei Bierflaschen und zwei Cocktailgläser - das eine ist leer, das andere noch zur Hälfte gefüllt. Die Vier posieren für das Foto. Schindler schickt es gegen 23 Uhr seinen Eltern. Etwa eine Stunde später liegt der 25-Jährige im Gleisbett der Bahnstrecke von Haldensleben nach Magdeburg. Sein Kopf ist verletzt - so schwer, dass er zehn Tage später an den Verletzungen stirbt.
Ein Foto für die Ewigkeit
Silke Schindler schaut sich das Bild der vier Jungen noch heute oft an. Es ist das letzte Bild, das sie von ihrem Sohn hat. Und es ist ein Bild, dass in ihr Fragen aufwirft, viele Fragen. „Wir wissen bis heute nicht genau, wie Hannes zu Tode kam“, sagt sie. Diese Ungewissheit begleite sie jeden Tag. Mal gehe es ihr schlecht, mal noch viel schlechter - andere Zustände gebe es nicht mehr. „Und niemand tut etwas, um diejenigen zu finden, die Hannes’ Tod verschuldet haben“, sagt die Mutter.
Besteht der Verdacht, dass bei einem konkreten Vorfall ein Verbrechen verübt wurde, dann übernimmt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen. Sie ist weisungsgebunden, arbeitet aber in hohem Maße unabhängig.
Im Fall des am 1. Oktober 2016 ums Leben gekommenen Hannes Schindler tat sie das, weil die Möglichkeit bestand, dass er durch Fremdeinwirkung starb. Bei den nun folgenden Ermittlungen wird die Staatsanwaltschaft von der Polizei unterstützt. Im „Fall Hannes“ wurde eine Gruppe gebildet, die aus bis zu sieben Beamten bestand.
Diese kamen von der Polizeidirektion Nord und Süd sowie von der Bundespolizei. Sechs Monate dauerten die Untersuchungen, dann kamen die Ermittler zu dem Schluss, dass gegen niemanden ein hinreichender Tatverdacht besteht. Sie konnten also keine Person ausfindig machen, bei der sie der Überzeugung waren, dass eine Verurteilung möglich ist. Das bedeutet nicht, dass es diese Person nicht gibt. Sie wurde nur eben nicht gefunden.
Gegen diese Einstellung der Ermittlungen kann Beschwerden eingelegt werden. Dies kann jedoch nur von Verletzten beziehungsweise Betroffenen oder von Hinterbliebenen getan werden. In Sachsen-Anhalt passiert das zwischen 1.300 und 1.500 Mal im Jahr.
Diese Beschwerden wurde im „Fall Hannes“ vom Anwalt der Familie eingereicht und von der nächsthöheren Instanz geprüft. In Sachsen-Anhalt ist das die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg. Dort nimmt sich ein Staatsanwalt die Akte noch einmal vor und führt auch eigene Ermittlungen durch.
Stellt sich dabei heraus, dass die vorherige Instanz Dinge versäumt hat, so kann eine Wiederaufnahme oder auch gleich eine Klage anordnen. Im Land passiert das 30 bis 50 Mal im Jahr. Im Fall Hannes wurde die Beschwerde nach MZ-Informationen als unbegründet abgewiesen. Als nächste Schritt bleibt ein Klageerzwingungsverfahren. Über das muss dann das Oberlandesgericht Naumburg entscheiden.
Nach sechs Monaten stellt die Staatsanwaltschaft Magdeburg im März 2017 die Ermittlungen im „Fall Hannes“ ein. Dagegen legte die Familie über ihren Anwalt , Burkhard Rayling, Beschwerde ein. Nach MZ-Informationen wurde diese von der Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg - die erneut ermittelte - nun als unbegründet zurückgewiesen. Das geschah auch auf Grundlage neuer Erkenntnisse zu den Vorgängen in der Oktober-Nacht.
Klar war bisher, dass Hannes Schindler gegen 23.54 Uhr in den Zug von Haldensleben nach Magdeburg stieg. Er nahm die erste Tür, ganz vorne. Seine drei Freunde betraten den Zug weiter hinten. Warum? „Hannes stieg immer vorne ein“, meint Anwalt Rayling. Das soll eine Art Marotte gewesen sein - eine in diesem Fall verhängnisvolle Angewohnheit.
Denn in Regionalzug 16431 fahren auch 80 Anhänger des Halleschen FC mit. Der Rivale aus dem Süden Sachsen-Anhalts hatte am 1. Oktober 2016 in Köln gespielt, die Fans waren auf der Rückreise. Sie hatten einen langen Tag in den Knochen und reichlich Alkohol im Blut - zumindest einige von ihnen.
Unmittelbar nachdem Schindler den Zug betreten hat, kommt es zu einer Auseinandersetzung. Ob die Hallenser den jungen Mann als FCM-Fan erkennen oder einfach wahllos den neuen Fahrgast attackieren, ist unklar. „Hannes hatte keinerlei Erkennungszeichen am Körper“, sagt Rayling. Das beweist auch das Foto, das er seinen Eltern schickte. Und sein Tattoo war unter drei Schichten Kleidung verborgen.
Auch Hannes' Begleiter werden angegriffen
Hinzu kommt, dass die HFC-Anhänger schon zuvor einen Fahrgast angegriffen hatten. In Gifhorn (Niedersachsen) musste ihr Zug deswegen für 15 Minuten stoppen. Personalien wurden aufgenommen, doch die Regionalbahn durfte ohne Begleitung durch Beamte weiter fahren. „Es war zu einer Beruhigung der Lage gekommen“, teilte die Bundespolizei mit.
Spätestens in Haldensleben kocht die Stimmung jedoch wieder hoch. Nachdem die drei Begleiter von Schindler in den Zug gestiegen sind, wollen sie sofort zu ihm - so berichten es die FCM-Fans später. „Doch sie kamen nicht weit, weil sie auch angegriffen wurden“, erklärt Burkhard Rayling. Was ihr Freund in diesen Minuten durchmacht, ist bis heute im Detail nicht klar. Wollte er aufgrund der Bedrohung den bereits fahrenden Zug verlassen oder wurde er gar von anderen Insassen hinaus gestoßen?
Mit dieser Frage verband sich lange einer der Knackpunkte im „Fall Hannes“. Unklar war nämlich, wie sich die Tür der Regionalbahn überhaupt hatte öffnen lassen. Das geht bei einem fahrenden Zug eigentlich nur über die Notentriegelung. Und die muss vom Lokführer freigegeben werden. Die neuesten Untersuchungen der Staatsanwaltschaft bestätigen nun jedoch, dass Schindler durchaus allein in der Lage gewesen wäre, die Tür zu öffnen - auch ohne Notentriegelung.
DNA-Spuren an den Gummis der Zugtür gefunden
Nach MZ-Informationen hat dies das Gutachten des Eisenbahnbundesamtes ergeben. Es wurde im Anschluss an den Vorfall angefertigt, fehlte bis jetzt jedoch nach Aussage von Anwalt Rayling in der Akte.
Die Experten gehen demnach davon aus, dass die Tür der Bahn von Hand bis zu einem Spalt von 43 Zentimetern Breite geöffnet werden kann. Mit großer Kraftanstrengung, die von einem Erwachsenen im Regelfall aufgebracht werden könne, sogar noch weiter. Zudem wurden laut aktueller Ermittlungsergebnisse auch DNA-Spuren von Schindler an den Gummis der Tür gefunden.
Bewiesen ist damit noch nichts. Die Momente in der Regionalbahn lassen sich nicht weiter rekonstruieren - auch, weil die Personen im Zug bei den anschließenden Verhören weitestgehend schwiegen oder angaben, nichts gesehen oder gar geschlafen zu haben.
HFC-Fans schweigen zu den Vorfällen im Zug
„In dieser Szene belastet niemanden einen anderen“, sagt Anwalt Burkhard Rayling. Nicht einmal gegen die Fans des Gegners würde ausgesagt. „Ab einem bestimmten Moment sind die alle eine Clique.“
Bei ihren Ermittlungen kann die Staatsanwaltschaft keine Person ausfindig machen, gegen die sie einen hinreichenden Tatverdacht hat. Die Möglichkeit einer Verurteilung sieht sie also nicht. Deswegen ist für die Ermittler die wahrscheinlichste Version, dass Hannes Schindler die Tür aufhebelte und sich beim Sprung ins Gleisbett die schweren Kopfverletzungen zuzog.
Es ist eine Version, die Silke Schindler nicht glauben kann. Die Familie von Hannes hat, unterstützt durch viele FCM-Fans, bereits Privatdetektive engagiert und selbst Nachforschungen angestellt.
Familie Schindler lässt Privatdetektive ermitteln
„Würde man nur ein paar der HFC-Anhänger, die im Zug waren, richtig verhören, dann könnte man den Fall schnell aufklären“, sagt Wilhelm Töller - einer der Unterstützer. Bei ihm hätten sich auch Ermittler gemeldet, die von dem Fall abgezogen worden seien und bei einem möglichen Prozess auch aussagen würden. Mit diesen Ermittlern zu sprechen, sei allerdings nicht möglich. „Die wollen nicht in die Öffentlichkeit gehen, weil sie um ihre Existenz fürchten.“
Auf rechtlichem Weg bleibt für die Familie von Hannes Schindler nach der Ablehnung der Beschwerde noch ein Klageerzwingungsverfahren. Darüber müsste das Oberlandesgericht in Naumburg entscheiden.
Sie probieren es jedoch auch noch auf einem anderen Weg. Am Donnerstag haben sie eine Petition veröffentlicht, in der sie fordern, dass der Fall von neuen Ermittlern wieder aufgenommen wird. „Nur so sehen wir noch die Möglichkeit eines fairen Verfahrens“, sagt Silke Schindler. (mz)
>> Hier geht es zur Online-Petition zur Wiederaufnahme der Ermittlungen im Todesfall Hannes S.