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Wounded Knee  Wounded Knee : Es war Mord - das Massaker am Indianerstamm der Lakota

Von Damir Fras 29.12.2015, 08:16
Ort des Gedenkens: Thomas Poor Bear vom Stammesrat der Lakota am Massengrab für die Opfer des Massakers.
Ort des Gedenkens: Thomas Poor Bear vom Stammesrat der Lakota am Massengrab für die Opfer des Massakers. Damir Fras Lizenz

Pine Ridge - Der Wind pfeift kalt über den kahlen Hügel, und es wird schon dunkel. Einen Viertelmeter hoch liegt der Schnee, er glitzert bläulich im letzten Licht der Sonne. Da stützt sich Thomas Poor Bear auf seinen Gehstock, nestelt mit einer Hand eine Zigarette aus der Packung, knickt sie in der Mitte und wirft sie in einem weiten Bogen auf das Massengrab, das von einem gräulichen Drahtzaun umschlossen ist. Der Mann mit dem breiten Mund, aus dem Zahnstümpfe hervorlugen, bringt seinen Ahnen ein Tabakopfer dar.

Dann fängt Poor Bear mit heiserer Stimme an zu singen. Es ist ein Lied in der Sprache der Indianer vom Stamm der Oglala-Lakota. Es handelt von einem weiten Land, das der weiße Mann an sich gerissen hat, und es handelt von einem Massaker. Es ist ein trauriges Lied. Als es zu Ende ist, sagt Poor Bear leise: „Ich will hier begraben werden, wenn ich zu meinen Vorfahren gehe. Das habe ich meinen Kindern gesagt.“

Thomas Poor Bear steht an diesem kalten Dezembernachmittag an einem besonderen Ort. Es ist der Platz, an dem sich Geschichte, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Ureinwohner verbinden. Am 29. Dezember 1890, vor 125 Jahren also, gingen hier in der Ödnis South Dakotas, nahe dem Dorf Wounded Knee, die Indianerkriege mit einem Massaker zu Ende. Die Schlacht von Wounded Knee, wie die Weißen das Blutbad bis vor wenigen Jahren nannten, besiegelte endgültig die Vorherrschaft des weißen Mannes in den USA. Die Indianer sprechen bis heute vom Massaker in Chankpe Opi Wakpala.

Die Gier nach Gold

Schlacht? Schon dieses Wort, das er jahrzehntelang aus Washington und von den Offizieren der US-Armee gehört hat, vermag John Yellow Bird Steele sichtlich zu verärgern. Er kneift die Augen zusammen, bis sie fast nicht mehr zu sehen sind unter dem Schild der Baseball-Mütze, die ihn als Veteranen der US-Armee ausweist. Steele ist Präsident des Stammesrates der etwa 40.000 Oglala-Lakota im Reservat von Pine Ridge in South Dakota. Er sitzt im Parlamentssaal auf seinem Stuhl und sagt mit Bitterkeit in der Stimme: „Es gab keine Schlacht. Das war eiskalter Mord mit Vorsatz.“ Erst vor 20 Jahren etwa gab die US-Armee zu, dass sie damals, in jener Winternacht Ende 1890, einen Fehler gemacht hat.

Wie es genau zu dem Massaker kam, ist bis heute umstritten. Es hätte jedenfalls, wenn sich alle an die Verträge gehalten hätten, nicht dazu kommen müssen. Doch als die Aussicht auf schnellen Reichtum in Gier umschlug, waren die Verträge nicht mehr das Papier wert, auf dem sie standen. Wie berauscht zogen die Weißen in den 1870er-Jahren zu Tausenden in die Black Hills, die heiligen Berge der Lakota, um dort nach Gold zu graben. Der Gebirgszug stand eigentlich den Indianern zu. Diese erhoben die Waffen, wurden von der US-Armee bedrängt, schlugen General Custer 1876 in der Schlacht am Little Bighorn. Keine 15 Jahre später mussten sie sich der Übermacht der Weißen geschlagen geben.

Es ist der frühe Morgen des 29. Dezember 1890, als Soldaten des 7. US-Kavallerieregiments das Feuer auf rund 350 Männer, Frauen und Kinder vom Stamm der Lakota am Wounded Knee eröffnen, so als wollten sie sich für vorangegangene Niederlagen und Demütigungen rächen. Zwei Stunden dauert der Angriff. Louise Weasel Bear, eine der wenigen Überlebenden des Massakers, sagt später: „Wir versuchten wegzulaufen, aber sie schossen auf uns wie auf Büffel. Ich weiß, dass es auch gute Weiße gibt, aber die Soldaten mussten sehr böse gewesen sein, weil sie auf Kinder und Frauen schossen. Indianische Soldaten würden das weißen Kindern nicht antun.“

„Das war ganz klar die Rache für Little Bighorn“, sagt John Yellow Bird Steele, der Präsident des Lakota-Stammesrats, und zeigt hinter sich auf die Wand des Parlamentssaales. Dort hängen Porträtfotos von Kriegern. „Diese Würde in den Gesichtern“, sagt Steele. „Diese Männer wollten nur ihren Lebensstil verteidigen.“

Das gelang ihnen nicht. Das Massaker von Wounded Knee markiert das Ende der indianischen Lebensweise in Nordamerika. Bevor er das erklärt, bittet Enos Poor Bear, der als Angestellter der Nationalparkverwaltung in den Badlands von South Dakota arbeitet, um eine Zigarette. Er zündet sie an, reckt sich in seinem Stuhl und sagt, man müsse sich nicht wundern. Es habe ja auch damals schon kaum noch Büffel gegeben. Die Weißen hätten ganze Arbeit geleistet, den nordamerikanischen Bison nahezu ausgerottet, sagt der Mittfünfziger. Der Büffel sei für die Lakota „wie ein Supermarkt auf vier Beinen“ gewesen. Vom Horn über Fell und Fleisch bis zur Innerei – er war die Lebensgrundlage der Indianer.

Heute streifen zwar wieder Bisons in kleinen Herden durch die Grassteppe von South Dakota, aber das Leben werde niemals mehr so sein wie zu Zeiten der Vorfahren, sagt Enos Poor Bear und zieht an der geschnorrten Zigarette. Er stößt bläuliche Rauchkringel aus. Dafür sorgten schon die weißen Rancher, die die Weidegebiete für ihre Herden einzäunten und so den Bewegungsraum für die Büffel verkleinerten.

Die alten Zeiten kommen nicht wieder. Und die neue Zeit bietet den etwa vier Millionen Nachfahren der US-Ureinwohner wenig Anlass, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Da mag Präsident Barack Obama einmal pro Jahr die Vertreter der Indianer-Stämme zum Empfang ins Weiße Haus laden, an ihrem schweren Los hat er wenig ändern können. Und Gerichtsentscheidungen, wonach den Lakota Schadenersatz für die Back Hills zusteht, lesen sich nur auf dem Papier gut. Die Indianer wollen kein Geld, sie wollen ihre Berge zurück. Geld aus Washington anzunehmen, „das würde nur den Diebstahl nachträglich legitimieren“, sagt John Yellow Bird Steele, der Stammesrats-Chef.

Das Reservat von Pine Ridge ist eine der ärmsten Gegenden der USA. Die Arbeitslosenrate liegt derzeit bei 89 Prozent. Männer werden im Schnitt nur 48 Jahre alt, Frauen 52 Jahre. Der US-Durchschnitt liegt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation bei 76 beziehungsweise 81 Jahren. Die Kindersterblichkeit ist zehnmal höher als der US-Schnitt. Die Selbstmordraten sind alarmierend hoch, die Alkoholsucht ist nicht zu stoppen.

Thomas Poor Bear, der 61 Jahre alte Vizepräsident des Stammesrates, fährt mit seinem klapprigen Pick-up die Hauptstraße von Pine Ridge entlang. Ein paar Kinder spielen im Schnee, die Tankstelle hat ein paar Kunden, vor dem Supermarkt steht ein Streifenwagen der Stammespolizei. Die Kleinkriminalität ist weit verbreitet im Reservat, dafür sorgen schon die Betrunkenen.

In Pine Ridge selbst gibt es keinen Alkohol zu kaufen. Aber wer nur fünf Minuten mit dem Auto nach Süden fährt, der überquert die Grenze zwischen South Dakota und Nebraska. Und in Nebraska liegt Whiteclay, ein armseliger Flecken mit gewaltigem Alkoholumsatz. Dort werden im Jahr mehr als vier Millionen Dosen Bier verkauft. Das sind fast 11 000 Dosen pro Tag. Der Schnaps kommt noch hinzu. Vor den schäbigen Läden liegen an manchen Tagen Dutzende von Menschen und schlafen ihren Rausch aus.

Fragt man Donna Schindler, dann gibt es für solche Exzesse eine einfache Erklärung. Die Psychologin aus dem kalifornischen Sacramento, die seit mehr als 20 Jahren in Indianerreservaten arbeitet, nennt das Phänomen ein „historisches Trauma“. „Die Seele der Menschen ist schwer verletzt. Der Heilungsprozess dauert schon viele Jahrzehnte und ist immer noch nicht abgeschlossen.“

Seit Generationen geben die Lakota die Geschichte von Wounded Knee im Familienkreis weiter. Rhonda Two Eagle etwa, die als Sekretärin des Stammesrates arbeitet, hat von ihrer Mutter schon als Kind erfahren, was die Großmutter wiederum über das Blutbad zu erzählen wusste. Sie habe gesagt, das Massaker allein sei fürchterlich gewesen. Das Schlimmste aber sei, dass die Weißen bis heute die Wahrheit gar nicht wahrhaben wollten. Bis auf wenige Ausnahmen glaubten die meisten, es sei damals eine Schlacht geschlagen worden, die eine Seite verloren habe. Dabei müsse man doch eher von einem Abschlachten sprechen, sagt Rhonda Two Eagle.

Tiefes Misstrauen

So hat sich in Pine Ridge und Umgebung seit mehr als hundert Jahren ein tiefes Misstrauensverhältnis zwischen den Indianern und den Weißen entwickelt. Die eine Seite sagt, die Weißen seien Rassisten, weil deren Polizei die Indianer ganz besonders im Visier habe. Und man wisse, dass Morde nicht aufgeklärt würden, weil es sich bei den Opfern um Indianer handelte. Die andere Seite sagt, die Indianer sollten sich mal nicht so haben und lieber das Saufen aufgeben. So werden auf beiden Seiten Mutmaßungen zu Feststellungen und Gerüchte zu Überzeugungen.

Auf dem Hügel, in dem die Opfer des Massakers von Wounded Knee liegen, steht Thomas Poor Bear, schlägt den Kragen seines Anoraks zum Schutz vor der Kälte nach oben, zieht kräftig an seiner Zigarette und rezitiert ein Gedicht. Er hat es selbst geschrieben. Es handelt von der Werten der Lakota, von Hoffnung und von Respekt. Die weißen Männer hätten vielleicht die Lebensgrundlage seiner Vorfahren vernichtet, sagt Poor Bear, das Herz und den Stolz hätten sie ihnen nicht nehmen können. Er stützt sich auf seinen Gehstock, denn er hat ein schlimmes Knie.

„Wounded Knee am Wounded Knee“, kichert Poor Bear, stapft vorsichtig den Hügel hinab durch den Schnee, steigt in seinen klapprigen Pick-up und fährt in die Dämmerung hinein. Seit sein Häuschen vor ein paar Monaten abgebrannt ist, lebt er in einem Wohnwagen ohne Wasseranschluss. Das mache ihm nichts aus, sagt Thomas Poor Bear. Er sei wie ein Büffel. Er finde überall Wasser.

Das Massaker von Wounded Knee, 29. Dezember 1890: Häuptling Spotted Elk, bisweilen auch fälschlich Big Foot genannt, liegt tot im Schnee. Sein Körper ist steif vom Frost.
Das Massaker von Wounded Knee, 29. Dezember 1890: Häuptling Spotted Elk, bisweilen auch fälschlich Big Foot genannt, liegt tot im Schnee. Sein Körper ist steif vom Frost.
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