Waiblingen Waiblingen: Schock nach Geiselnahme von Waiblingen
Waiblingen/dpa. - Der Schock sitzt tief: Nach der Geiselnahme in Waiblingen (Baden-Württemberg) wird es an der betroffenen Friedensschule zunächst keinen normalen Unterricht geben. Für die 70 Lehrer und 836 Schüler soll die Schule am Montag «im Zeichen von Besinnung und Dankbarkeit» stehen, sagte Rektor Bernd-Günter Barwitzki am Sonntag der dpa. Der 16 Jahre alte bewaffnete Geiselnehmer, der am Freitag sechs Stunden lang vier Schüler in seiner Gewalt hatte, sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Am Samstag hatte eine Richterin des Amtsgerichts Waiblingen Haftbefehl gegen ihn erlassen.
Das stundenlange Bangen um die Geiseln hat bei vielen die Schreckensbilder des Massakers am Erfurter Gutenberg-Gymnasium mit 17 Toten vom April heraufbeschworen. Nun bekommen die Kinder und Jugendlichen professionelle Hilfe. Das Stuttgarter Kultusministerium und die Schulämter stellten Psychologen für die Friedensschule und die Salier-Realschule Waiblingen ab, die der geständige Täter zuletzt besuchte. Nach Angaben einer Schulamtssprecherin sollen die Schüler von ihren Klassenlehrern betreut werden. An beiden Einrichtungen kamen Elternbeiräte und die Gesamtlehrerkonferenzen zusammen, um über das Vorgehen zu beraten.
Nach seiner Tat wurde der 16-Jährige in ein Jugendgefängnis gebracht. Ihm wird im Haftbefehl erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme vorgeworfen. Haftgrund ist nach Angaben der Staatsanwaltschaft die Fluchtgefahr des Jugendlichen. Seine sozialen Verhältnisse seien zu ungeordnet, um ihn auf freiem Fuß zu belassen, sagte Pressesprecher Eckhard Maak. Er verfüge nicht über «ausreichende soziale Bindungen».
Der Jugendliche, der als kleines Kind von einer kinderlosen Familie adoptiert wurde, dort aber keinen Halt fand und nun in einer betreuten Wohngruppe in Korb zu Hause ist, sei bereits einmal verschwunden und als vermisst gemeldet worden, bevor ihn die Polizei wieder aufgegriffen habe. Nach Ansicht von Rektor Barwitzki lebte er «in zwei Welten: In der Realität und in seiner Traumwelt». Dennoch sei er nicht mit dem Mörder von Erfurt zu vergleichen. «Auf Gebieten, auf denen der Schüler gut war, wie zum Beispiel im Umgang mit Computern, hatte er auch große Anerkennung», sagte der Diplom- Pädagoge. Die Tat führt er auf «mangelndes Selbstwertgefühl» und «Wunsch nach Anerkennung» zurück. Rache scheide aus: Der Täter war nicht von dieser Schule geflogen.
Das detaillierte Bild, das Lehrer von dem Geiselnehmer zeichneten, beeinflusste auch die Polizeistrategie und verhinderte womöglich eine blutige Eskalation. «Wir konnten dem Einsatzkommando das Täterprofil sehr genau beschreiben, so dass die Polizei eine Zermürbungstaktik anwenden konnte», sagte der Rektor. Eine Erstürmung der Schule habe zu keiner Zeit zur Debatte gestanden. Die Geiseln blieben bei dem Drama unversehrt. In seiner ersten Vernehmung durch die Polizei legte der Junge ein umfassendes Geständnis ab.
Dabei sagte der 16-Jährige, er habe sich erst während der Tat überlegt, die eine Million Euro Lösegeld zu fordern. Die Geiseln habe er sich gezielt aus der Gruppe von zehn Schülern und einer Lehrerin ausgesucht. Er habe sich bemüht, die Atmosphäre in dem Computerraum der Friedensschule so angenehm wie möglich zu gestalten.
Der Jugendliche soll nach Angaben der Polizei «berechtigterweise» in dem Computerraum gewesen sein. «Er nahm an der Computer AG nicht beständig teil, aber hin und wieder.» Er sei immer wieder an die Schule gekommen und habe auch deren Homepage im Internet mit gestaltet, sagte der Rektor. Am Tattat sei er schon vormittags in der Schule gewesen und habe sich nach der Informatiklehrerin erkundigt. Während des Unterrichts - laut Polizeiprotokoll um 14.47 Uhr - zog der 16-Jährige dann eine Waffe. Nach eigenem Bekunden habe er vier Jungen bestimmt, die mit ihm in der Klasse bleiben mussten. «Er will sich diejenigen herausgesucht haben, die ihm auf Grund ihrer persönlichen Verfassung in der Lage schienen, die Situation zu bewältigen», sagte der Polizeisprecher.
Der Geiselnehmer nahm per Handy Kontakt zur Polizei auf, die zuvor schon von freigelassenen Schülern alarmiert worden war. «Der Täter hatte sich nach eigenen Angaben auf eine längere Geiselnahme eingerichtet», sagte der Polizeisprecher. Er habe vorsorglich Wasser und ein Sanitätspäckchen dabei gehabt. Die mit ihm eingeschlossenen Kinder behandelte er nach Polizeiangaben gut. «Er gab ihnen zu trinken, als sie Durst hatten und bestellte Pizza, als sie hungrig wurden.» Um 21.10 Uhr hatte das Geiseldrama ein Ende: Der 16-Jährige warf seine Waffe aus dem Fenster und ließ sich widerstandslos festnehmen.