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Wahrsagen Wahrsagen: Ach, Du lieber Himmel

Von steffen könau 04.11.2011, 17:39

Halle (Saale)/MZ. - Viel zu tun hat er nicht, wenn Daniel Kreibich seiner Arbeit nachgeht. Kreibich strahlt ein grelles Kronengrinsen in die Kamera, seine Augen blinkern zutraulich und die randlosen Brillengläser funkeln. Klingelt das Telefon, fragt Daniel Kreibich, der als Botschafter des Hohen Rates beim Fernsehsender Astro TV tätig ist, nur ganz kurz "Bist Du bereit für deine Botschaft"? Und dann hebt er die Hände wie flehend zur Studiodecke, verdreht die Pupillen und reicht durch, was ihm die höheren Mächte aufgetragen haben: "Auf Dich kommt eine spirituelle Aufgabe zu!" erfährt die Anruferin.

Fünfzig Cent kostet dieses Wissen, fünfzig Cent zahlt auch der nächste Neugierige für die Dienstleistung des stets gut durchgebräunten "Star-Hellsehers", der nach eigener Aussage eine direkte Verbindung zu höheren Mächten hat. Die sagen ihm, was er an seine Kunden weitergibt. Die helfen ihm auch, bei Anrufern "das böse Karma abzulösen". Mit gequältem Gesichtsausdruck reibt Kreibich dabei an einem großes Stück Funkelglas. Er verzieht den Mund. Runzelt die Stirn vor Anstrengung. Und schon kann die Lebensenergie wieder "unbedrängt fließen".

So unvorstellbar es scheint, dass irgendjemand auf diesen Hokuspokus hereinfällt, so gefragt sind die Dienstleistungen der Industrie des Übersinnlichen. Hier werden rund um die Uhr Karten gelegt und Horoskope erstellt, Pendel geschwungen oder "Engel Vital Auraschutz"-Armbänder verkauft. Dutzende und Aberdutzende Berater mit zumindest eingebildeter Sonderbegabung sagen die Zukunft voraus, saugen negative Energien ab und bringen bei "spirituellen Seminaren" schnell mal "Glauben, Geist und Seele in Harmonie".

Es ist kein übersinnliches Phänomen, das den Menschen auf die Märchenwiesen von Engelmedien, Spiritisten und okkulten Zauberern treibt. Mitten in der großen Krise boomt die Branche, als suchten die Menschen ausgerechnet bei Hokuspokus und Zauberei Zuflucht vor den unsicheren Zeiten. Wenn das Alltägliche unverständlich wird, gilt das Übersinnliche plötzlich als vertrauenswürdig, wenn der Mensch seine Gegenwart vor lauter Euro-Panik und Jobangst nicht mehr selbst bestimmen kann, will er wenigstens wissen, wie seine Zukunft aussieht.

Birgit Vildebrand hat sie jeden Tag in dem kleinen Zimmerchen sitzen, in dem sie ihrem Job als "Orakel von Delitzsch" nachgeht. Die Frauen, die sich Rat in Liebesdingen holen, weil sie einfach nicht entscheiden können, ob der Neue nun endlich der Richtige ist. Die Männer, die ihre Jobchancen ausgependelt haben wollen. Lottogewinner, die die Kartenlegerin als Finanzberaterin einsetzen. Handwerksmeister, die sie einen Stapel Bewerbungsunterlagen analysieren lassen. Erst neulich war eine deutsche Nationalmannschaftstrainerin da, um sich zu erkundigen, ob der zuletzt ausgebliebene Erfolg bald zurückkehrt.

Birgit Vildebrand, die bei sich selbst schon als Kind eine gewisse Hellsichtigkeit bemerkt haben will, hilft, wo sie kann. Auch wenn sie selbst natürlich gar nichts machen kann, wie sie sagt. Das, was sie ihren Besuchern sage, komme ja nicht von ihr, versichert sie. "Ich bin nur das Medium, durch das das Wissen geleitet wird." Ein Talent, das die propere Frau mit den flinken Augen früher notgedrungen verkommen ließ. Zwar hatte sie ein zufällig bei einer Freundin herumliegendes Tarot-Kartenspiel deuten können, ohne jemals vorher eines gesehen zu haben. Doch mehr als in der Disco "tollen Typen aus der Hand zu lesen, weil die dann mit mir getanzt haben", wird in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft nicht aus der Begabung. Statt in die Zukunft zu sehen, geht Birgit Vildebrand in der Gegenwart zur Schwesternschule, später wechselt sie zur Reichsbahn, irgendwann als Zivilangestellte zur Nationalen Volksarmee und schließlich an die Leipziger Uniklinik. Die Kartenlegerei ist nur ein Spaß, das Lesen aus der Hand ein Gag für die Frühstückspause im kichernden Kollegenkreis. Bis die Wende kommt und das Wahrsagen eine anerkannte Dienstleistung werden darf. Birgit Vildebrand ist eine der ersten im Osten, die selbstbewusst von sich sagen, sie können in die Zukunft sehen. Die Uniklinik reagiert sofort und wirft sie raus. Es war nicht das Schlechteste, was Birgit Vildebrand im Leben passiert ist, daran lässt die bekannteste Wahrsagerin Ostdeutschlands keinen Zweifel. "Wer möchte nicht das machen, was er am besten kann", lacht Birgit Vildebrand, die ganz sicher ist, vom Schicksal mit dem Talent der Hellsichtigkeit gesegnet worden zu sein. "Ich denke nicht, wenn ich Karten lege, ich weiß nur, dass es eintrifft", sagt sie. Umso mehr ärgert sie die Verwurstung des Übersinnlichen durch die esoterische Massenindustrie. "Wenn ich sehe, was da läuft", sagt Vildebrand, "da stehen mir die Haare zu Berge."

Während sie an der ehrlichen Handarbeit mit der klassischen Tarotkarte festhält, weil sie auf dieses Tor ins Unterbewusste ihrer Klienten einfach nicht verzichten möchte, lesen sie im Fernsehen Allerwelts-Vorhersagen aus der Gemüsesuppe, starren theatralisch in Kristalle aus Fensterglas und verticken überteuertes Wunderzubehör. Birgit Vildebrand lacht schrill auf beim Gedanken an die Berufskollegen und deren Kartenkünste. "Ich sehe ja, was auf dem Tisch liegt", sagt sie, "und ich höre, was die den Leuten erzählen." Oft habe das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. "Die sagen, was die Anrufer hören wollen, damit die immer wieder anrufen."

Vildebrand hat eine Zeit lang mitgemacht beim industriellen Zukunftsdesign, bei dem es vor allem darum geht, sicherzustellen, dass der Kunde einer bleibt. Die Delitzscherin hat unter Hunderten von "Beratern" gesessen, ihre Karten gelegt und versucht, die Anrufer lange genug in der Leitung zu halten, dass sich ein Stau bildet. Tausend Leute müssen anrufen, erst dann kommt einer durch. "Tausend Leute sind 500 Euro in der Minute", rechnet Birgit Vildebrand vor. Wer hier zu schnell wahrsagt, verdirbt die Preise, wer die Nachschulung zum Thema "Wie halte ich den Anrufer in der Leitung" verweigert, fällt in Ungnade.

Birgit Vildebrand hat gemerkt, "dass ich das einfach nicht kann". Ihr habe die persönliche Ebene gefehlt, der direkte Draht zum Ratsuchenden, der Eindruck, mit ihrer Gabe etwas Sinnvolles zu tun. "Wir hatten dort Leute, die riefen Dich jeden Tag an, um immer dieselbe Frage zu stellen." Vildebrands Mund wird hart, wenn sie daran zurückdenkt. "Da brauche ich doch meine Karten nicht auspacken."

Die 50-Jährige ist einen Schritt zurückgegangen, um nach vorn zu kommen. In dem mit Pendelbrettchen, Kartenspielen und Fotos von Tochter Kathrin und Enkel John vollgestopften kleinen Zimmer im Delitzscher Altneubau empfängt sie jetzt wieder auf Termin, sie legt die großen Tarotkarten, pendelt, beschwört Voodoomagie für Liebeszauber und knüpft Kontakte zu Verwandten im Jenseits.

Dank der neuen Medien kann die Expertin der uralten magischen Künste von zu Hause aus in der ganzen Welt arbeiten. Eine befreundete Kollegin betreibt in Halle einen Internetsender, über den Birgit Vildebrand selbst Zuschauern in Südafrika, in Italien oder Luxemburg guten Rat aus den Karten lesen kann. Rat, der gebraucht wird, wie sie glaubt. Es komme niemand zu ihr, wenn es ihm gutgehe, sagt sie. "Nein, die Leute haben ein Problem und bei mir werden sie damit ernstgenommen." Sie sage, was sie sehe. Dann wissen die Leute Bescheid und können sich danach verhalten. "Alles andere", sagt Birgit Vildebrand, "ist doch bloß Märchenwiese".