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Unglück bei der Tafel in Gommern Unglück bei der Tafel in Gommern: Drei Tote und drei Verletzte bei Verpuffung

Von Mathias Beyer Und Steffen Könau 02.04.2015, 16:14
Die Küche der Tafel in Gommern ist vollständig zerstört.
Die Küche der Tafel in Gommern ist vollständig zerstört. Steffen Könau Lizenz

Gommern - Am Tag danach hängen die Wolken tief über Gommern, einem kleinen Ort im Jerichower Land. Es ist wieder still geworden im Gewerbegebiet, in dem sich am Gründonnerstag eine Tragödie abgespielt hat, unbemerkt sogar von den wenigen Nachbarn in der Gartenanlage nebenan.

Drei Mitarbeiter der Tafel, die hier in einer kleinen Baracke direkt neben einer aufgegebenen Tankstelle an jedem Donnerstag Lebensmittel an Bedürftige ausgeben, starben. Zwei der Opfer waren über Ein-Euro-Jobs bei der Tafel beschäftigt, ein 72-jähriger Mann half ehrenamtlich. Zuvor war es nach Polizeiangaben an einem Gasofen zu einem Gasaustritt und zu einer Verpuffung gekommen. Drei weitere Personen erlitten einen Schock und wurden behandelt.

Sirenengeheul am Nachmittag

„Wir haben nur den Hubschrauber gesehen“, sagt Erwin Bay, der zur Unglücksstelle gekommen ist, um sich näher umzuschauen. Der ehemalige Filmvorführer wohnt nicht weit entfernt, er hat die Tafel zwar nie selbst besucht, kennt aber Leute aus Gommern, die sich hier regelmäßig das Lebensnotwendigste holen. „Eine sehr gute Sache“, sagt der 83-jährige, „umso trauriger, dass es die Leute jetzt so getroffen hat.“

Sirenengeheul sei am Nachmittag zuvor zu hören gewesen, „dann kamen lauter Feuerwehrautos und Krankenwagen“, beschreibt ein anderer Gartennachbar. Seine Frau und er hätten an eine Großübung gedacht. „Bis wir dann gesehen haben, dass es etwas Schlimmes ist.“

Wie schlimm, das wird erst nach einem Blick durchs Fenster klar, aus dem das Glas förmlich herausgesprengt wurde. Der Raum in dem inzwischen von der Polizei versiegelten Gebäude, in dem die Helfer der Tafel nach dem Ende der Essenausgabe offenbar noch ein wenig zusammensaßen, ist schwarz verkohlt, alles Brennbare in dem viermal vier Meter messenden Zimmer ist zu Asche zerfallen. Rund um den Gasofen, der in einer Ecke steht, sind die Wände in der Hitze weiß gebrannt, von Stühlen ist nur ein Stahlgerippe geblieben. Bloß hinter der Tür, die offengestanden haben muss, als es zur Verpuffung kam, finden sich einige Zentimeter weniger verbrannter Wand.

Weitere Informationen, Hintergründe und Reaktionen lesen Sie auf Seite 2.

„Es muss schnell gegangen sein“, glauben die Leute aus Gommern, die am Vormittag vor dem einstöckigen Haus verharren, an dessen Vorderseite keine Brandspuren zu sehen sind. Ein 32-jähriges Opfer stammt aus dem 5 600-Seelen-Ort, zudem starben eine 59-jährige Frau und ein 72-jähriger Mann aus dem Raum Möckern.

Dort, im Nachbarort, sitzt der Verein Sucht-Kurve, der seit 1993 Suchtkranken hilft, aus ihrer Alkohol-Abhängigkeit herauszufinden. Ein Teil der Therapie ist die Arbeit bei der Tafel: Sechs Klienten, wie sie bei der Sucht-Kurve genannt werden, arbeiten in der Ausgabestelle, sie verpacken die von Discountern und Händlern gespendeten Lebensmittel und geben sie an die Wartenden aus. Jede Woche kommen bis zu 80 Menschen, um sich zum symbolischen Preis von einem Euro zu versorgen.

„Aber die Ausgabe war auf jeden Fall schon vorbei“, weiß Erwin Bay, für den Schlangen vor dem Haus der Tafel jeden Donnerstag ein gewohnter Anblick sind. Die bei dem Unglück Getöteten und die drei verletzten Personen - zwei Mitarbeiterinnen der Tafel sowie ein Mitarbeiter einer Firma aus dem Industriegebiet - hätten wohl danach „noch zusammengesessen. Dann muss es passiert sein.“

Das Konzept der Tafeln stammt aus den USA. Das Prinzip: Helfer sammeln Lebensmittel, die noch verwertbar sind. Umsonst oder gegen einen geringen Betrag werden sie von ehrenamtlichen Mitarbeitern an Bedürftige weitergegeben - etwa an Hartz-IV-Empfänger oder Senioren, deren Rente nicht zum Leben reicht. Auch Studenten und Asylbewerber sind nach Angaben des Bundesverbands Deutsche Tafel zunehmend auf die kostenlosen Lebensmittel angewiesen.

Meist handelt es sich um Backwaren vom Vortag, Produkte, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum bald abläuft oder Lebensmittel, deren Verpackung beschädigt wurde. Zu den Spendern gehören Großmärkte, Lebensmittelproduzenten oder Einzelhändler.

Die deutschlandweit erste Tafel entstand laut Bundesverband 1993 in Berlin. Bis zum Jahr 2000 stieg die Zahl der Tafeln auf bundesweit 260, mittlerweile sind es mehr als 900. Von Bernburg bis Zerbst: In Sachsen-Anhalt gibt es fast 30 Tafeln.

Unglücksursache war nach Angaben der Polizei ein technischer Defekt an einem Heizgerät, das von einer Gasflasche versorgt wurde. Durch ein Leck soll Gas ausgetreten sein, das sich entzündete. Dadurch sei es zu der Verpuffung und einer Druckwelle gekommen.

Wolfgang Auerbach, der die Sucht-Kurve 1993 gründete, nachdem er seine eigene Alkoholsucht in einer Berliner Selbsthilfegruppe besiegt hatte, ist immer noch fassungslos. „Wir sind alle im totalen Tief“, sagt der Sozialsuchttherapeut, dessen Verein mit sieben Mitgliedern begann und und heute für das Deutsche Rote Kreuz arbeitet. Fast tausend „Klienten“, wie sie hier genannt werden, hat die Sucht-Kurve bereits unterstützt, ein Netzwerk von 300 ehemaligen Suchtkranken und Angehörigen hilft dabei. Einzelheiten über die Ereignisse am Donnerstag weiß Auerbach auch noch nicht. Aber die Tragik sei unerträglich, sagt er, „wir können es immer noch nicht fassen, was da passiert ist“.

Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sprach den Angehörigen der Opfer seine Anteilnahme aus. „Der Tod der drei ehrenamtlichen Mitarbeiter der Sozialeinrichtung in Gommern macht uns alle tief betroffen“, erklärte Haseloff. „Wir trauern mit den Angehörigen.“

Osterfeuer abgesagt

Auch beim Bundesverband der Tafeln löste das Unglück Entsetzen aus. „Wir sind bestürzt und tieftraurig“, sagte Verbandschef Jochen Brühl. „Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer und den Verletzten.“ Nach Brühls Worten hat es so ein schweres Unglück bei den Tafeln noch nicht gegeben. „Für uns ist es ein Schock - das macht uns sprachlos.“

„Nun ist Aufklärung gefragt“, betonte Andreas Steppuhn, der seit dem Mitte März ehrenamtlicher Landesvorsitzender der Tafeln ist. Zugleich sagte er der Einrichtung in Gommern bestmögliche Unterstützung bei der Bewältigung des Unglücks zu. „Was wir tun können, werden wir tun“, erklärte der Landtagsabgeordnete (SPD). „Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen und ihren Familien.“ Gommerns Bürgermeister Jens Hünerbein (parteilos) hat als Reaktion auf das Unglück gestern Osterfeuer und Fackelumzug im Ort abgesagt.

Innenminister Holger Stahlknecht dankte‎ in einem Gespräch mit Gommerns Bürgermeister Jens Hühnerbein den beteiligten Einsatzkräften für ihre Arbeit bei der Bewältigung der Lage. 

Gleichzeitig sprach Stahlknecht den Hinterbliebenen der Opfer seine Anteilnahme aus. "Die weiteren Ermittlungen müssen nun zeigen, was ursächlich für dieses furchtbare Unglück war. Erste Ergebnisse deuten auf einen Unfall hin. Das Geschehene ist doppelt tragisch, da hier Ehrenamtler im Einsatz für die Sache betroffen sind. Ich bedauere zutiefst den Verlust von Menschenleben und spreche den Angehörigen der Opfer mein aufrichtiges Beileid aus.", so der Innenminister.

(mz)

Ermittler arbeiten am nach einem Feuer in Gommern an der Brandstelle.
Ermittler arbeiten am nach einem Feuer in Gommern an der Brandstelle.
dpa Lizenz
Drei Menschen kamen bei der Verpuffung in Gommern ums Leben.
Drei Menschen kamen bei der Verpuffung in Gommern ums Leben.
Steffen Könau Lizenz
Die Tafel in Gommern befindet sich in unmittelbarer Nähe dieser Tankstelle.
Die Tafel in Gommern befindet sich in unmittelbarer Nähe dieser Tankstelle.
Steffen Könau Lizenz
Ein Bestattungsfahrzeug trifft nach einem Unglück mit drei Toten an der Unglücksstelle in Gommern ein.
Ein Bestattungsfahrzeug trifft nach einem Unglück mit drei Toten an der Unglücksstelle in Gommern ein.
dpa Lizenz
Ermittler arbeiten nach einem Feuer in Gommern.
Ermittler arbeiten nach einem Feuer in Gommern.
dpa Lizenz