Unfälle Unfälle: Ein Jahr nach der Flugzeugkatastrophe

Überlingen/dpa. - Die Spuren im Boden sind ein Jahr nach der Flugzeugkatastrophe vom 1. Juli 2002 mit 71 Toten beseitigt, die Spuren in den Köpfen aber bleiben. Viele Bewohner der Bodensee- Region, die den Absturz einer Tupolew-Passagiermaschine mit 69 Insassen und einer Fracht-Boeing mit 2 Piloten selbst miterlebten, schauen heute anders zum Himmel als vor der Katastrophe. «Man guckt bewusster und reagiert sensibler, wenn man ein Martinshorn hört», sagt Überlingens Oberbürgermeister Volkmar Weber.
Die Tupolew 154 aus der russischen Teilrepublik Baschkirien, mit einer Schülergruppe auf einem Ferienflug nach Spanien, und die Boeing des Kurierdienstes DHL waren elf Kilometer über dem nordwestlichen Bodenseeufer kollidiert und abgestürzt. Wrack- und Gepäckteile sowie die Leichen gingen in einem Areal von mehreren Dutzend Quadratkilometern bei Überlingen nieder.
Das Flugzeugunglück war das drittschwerste in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg und löste den größten Polizeieinsatz in der Geschichte Baden-Württembergs aus. Knapp eine Woche suchten insgesamt 6200 Polizeibedienstete, unterstützt von über 1000 Freiwilligen in Wiesen, Wäldern und auf den Feldern nach den Überresten. Bei der Bergung der Toten waren sie - ähnlich wie die weit entfernt wartenden Angehörigen - extremen seelischen Belastungen ausgesetzt.
Mit gemischten Gefühlen sehen viele Bewohner der Unglücksregion dem Jahrestag entgegen. «Das wühlt natürlich alles wieder auf», sagt Gastwirt Werner Steurer in Owingen-Taisersdorf. In etwa 250 Meter Entfernung, am Rand der 300-Seelen-Gemeinde, spielten sich in der sternenklaren Nacht vom 1. zum 2. Juli 2002 gespenstische Szenen ab. Ein ohrenbetäubendes Rumpeln und Dröhnen zerriss die Stille der Ferienlandschaft, die Fracht-Boeing, die mit der Tupolew kollidiert war, krachte vom Himmel und bohrte sich kopfüber in ein Wäldchen. «Mein Sohn stand plötzlich kreidebleich wie ein Leintuch vor mir und schrie: "Da brennt alles"», erinnert sich der Vater. Drei Feuerwehrleute saßen nach einer Übung noch an seiner Theke, doch gegen das vom Kerosin genährte Flammenmeer konnten sie nichts ausrichten. «Man steht da und kann erstmals gar nichts machen», sagt Steurer bedrückt.
Dass am Boden keine Menschen zu Schaden kamen, wird in der Region noch immer wie ein Wunder empfunden. Denn viele schwebten in dieser lauen Sommernacht in akuter Lebensgefahr. In das Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer mischt sich so stets Dankbarkeit, von einer noch größeren Katastrophe verschont geblieben zu sein.
Zur Erinnerung an die Toten soll in der Gemarkung Brachenreuthe in Absprache mit der baschkirischen Seite ein zentrales, von Künstlern gestaltetes Mahnmal entstehen. Auch in den Nachbargemeinden Owingen und Taisersdorf gibt es Gedenkstätten für die Opfer.
Die Tragödie hat Menschen verschiedener Kultur und Religion zusammengeführt. Am Bodensee wie in Baschkirien, der kleinen Republik im Südural, haben sich Vereine gebildet. Die von Russisch- Dolmetschern gegründete «Brücke nach Ufa» organisiert Kultur- und Jugendaustausch und hält den Kontakt zu Verwandten der Opfer. Zum Jahrestag werden 120 Angehörige am Bodensee erwartet.
Sie sind dankbar für die Unterstützung, warten aber immer noch auf eine Entschädigung. Ungeachtet der schwierigen Rechtslage ist dafür eine Pool-Lösung in Sicht: Deutschland, die Schweiz und die Schweizer Flugsicherung skyguide wollen in diesen Tagen die vertragliche Grundlage für einen Entschädigungsfonds legen. Skyguide in Zürich kontrolliert im Auftrag der Bundesrepublik den süddeutschen Luftraum.
Die Flugsicherung war nach dem Absturz massiv in die Kritik geraten. Nach Angaben der Bundesstelle für Flugunfall-Untersuchung in Braunschweig hatte der Lotse in der Unglücksnacht mit technischen Problemen zu kämpfen und möglicherweise missverständliche Anweisungen an die Piloten gegeben. Die Konstanzer Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn und weitere skyguide-Verantwortliche wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Die genaue Unfallursache ist jedoch noch nicht bekannt. Die BFU will den Abschlussbericht bis zum Jahresende vorlegen.
