Trinitrophenol Trinitrophenol: So gefährlich wie der Sprengstoff TNT
Düsseldorf/dpa. - Doch jetzt sorgtdie eigentlich ungefährliche Chemikalie für Schlagzeilen. In denvergangenen Wochen gab es deutschlandweit in mehreren dutzend FällenRäumaktionen und sogar Sprengungen von Resten der Säure in Schulenund Apotheken. Denn ganz harmlos ist Pikrinsäure nur, so lange sie inWasser gelagert wird.
«Irgendwann haben die Überprüfungen angefangen, dann hat sich daswohl verselbstständigt», vermutet Chemiker Robert Kellner von derPräventionsstelle der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung(DGUV) in München zu der Welle von Pikrin-Funden. Der DGUV istzuständig für alle Unfälle, bei denen Schüler verletzt werden.Kellner hat mit Kollegen die «Richtlinien zur Sicherheit imUnterricht» geschrieben, welche für alle Bundesländer gelten. Dortsteht seit Jahren, wie die Säure «phlegmatisiert» werden muss, alsogegen Erschütterungen durch Zugabe von Wasser geschützt wird.
Die Räumaktionen verlaufen immer ähnlich. In einer Schule odereiner Apotheke wird ein Rest Pikrinsäure gefunden. Ist ereingetrocknet, geht alles ganz schnell. Erst die Evakuierung derRäume oder gleich ganzer Gebäude, dann das Anrücken von Sprengstoff-Spezialisten der Landeskriminalämter. Denn Trinitrophenol, wie es imFachjargon heißt, kann laut Experten explodieren und mindestens sogefährlich wie der Sprengstoff TNT sein, wird es in trockenem Zustandgeschüttelt oder anders erschüttert. Erst vergangene Woche wurden inEssen sowie Neukirchen und Perl im Saarland Pikrinreste gesprengt.
Chemiker wie Dieter Enders können die Aufregung nicht verstehen.«Die muss einfach wieder vorsichtig unter Wasser gesetzt werden»,sagt der Professor für Organische Chemie an der RWTH Aachen. Dann seidie Pikrinsäure auch weiter verwendbar. «Ich verstehe diese Hysterienicht, die immer um Chemieunfälle gemacht wird.» Es komme dauerndvor, dass etwa wegen eines Liters verschütteter Salzsäure gleichGroßalarm ausgelöst werde.
Allein in den vergangenen Tagen hieß es «Pikrin-Alarm» allerorten:Mindestens 16 Einsätze zählte das niedersächsische Landeskriminalamt(LKA). In Nordrhein-Westfalen hat das LKA bereits die Zahl von mehrals 30 Einsätzen genannt. Die Berliner Feuerwehr zählte in derzweiten Juli-Hälfte 13 Pikrin-Einsätze. Auch im Saarland wurdemehrfach Alarm geschlagen. Dabei warnt etwa das LKA in Niedersachsenvor «Panikmache»: Die bisherigen Ergebnisse gäben keinen Anlass zurSorge. Das dortige Kultusministerium hatte eine Überprüfung derBestände in Schulen angeordnet. In Osnabrück gaben die Entschärferlediglich Wasser zu den bereits länger stehenden Vorräten an vierSchulen.
Nach DGUV-Angaben wurde noch nie ein Schüler bei einem Unfall mitPikrinsäure verletzt. 2007 registrierte die Versicherung bundesweit1,265 Millionen Schulunfälle, bei denen ein Arzt eingeschaltet wurde.Nur 0,2 Prozent davon ereigneten sich im naturwissenschaftlichenUnterricht, sagt eine Sprecherin. «Allerdings wird bei den Anzeigenhäufig keine genauere Angabe gemacht, in welchem Unterricht etwaspassierte.» Meistens verletzten sich Schüler beim Sport. HatPikrinsäure also nur Fehlalarme ausgelöst? «Selbst ausgetrockneteReste explodieren nicht zwangsläufig», sagt Chemiker Kellner, «docheine gewisse Brisanz hat die Säure natürlich schon.»
Die Bundesvereinigung der Deutschen Apothekerverbände (ABDA) gehtdavon aus, dass einzelne Mitglieder wegen der Berichte über die Fundein Schulen nun ihre Pikrinsäure-Bestände überprüften. «Für dieLagerung haben wir keine expliziten Regeln ausgeben», sagt eineSprecherin, «das hat aber auch jeder Apotheker im Studium gelernt.»Sie gehe bei der eingetrockneten Säure von Einzelfällen aus und sehekeinen Grund zur Beunruhigung.
Dass Pikrinsäure richtig gefährlich werden kann, zeigt ein Blickin die Geschichtsbücher: Im kanadischen Halifax explodierte imDezember 1917 ein französisches Kriegsschiff, das unter anderem 2300Tonnen Pikrinsäure geladen hatte. 2000 bis 3000 Menschen starben,etliche erblindeten oder wurden verletzt. «Pikrinsäure wurde inKriegszeiten eingesetzt», sagt Prof. Enders, «bevor man bessereSprengstoffe fand.»
Auch für Versuche im Chemie-Unterricht können andere Mittelverwendet werden. Meinen jedenfalls Experten des Schulministeriums inNordrhein-Westfalen. Sie raten nun Schulen, auch in anderenBundesländern, auf die gelbe Säure einfach zu verzichten.