Trauma-Therapeutin Claudia Schedlich im Interview Trauma-Therapeutin Claudia Schedlich im Interview: "Das Vertrauen in das Gute im Menschen ist erschüttert"

Frau Schedlich, nach bisherigem Stand der Ermittlungen hat der Co-Pilot des Germanwings-Flugs 4U9525 das Flugzeug absichtlich zerstört, um sich das Leben zu nehmen und 149 Menschen mit in den Tod zu reißen. Was ist für die Angehörigen schwerer verkraften, ein technischer Defekt oder die absichtliche Handlung eines Menschen?
Claudia Schedlich: Der mutmaßliche Suizid wiegt bei den Angehörigen deutlich schwerer, weil er viel schwerer zu fassen ist, als ein technischer Defekt. Dass ein Mensch anderen Menschen so etwas antut, erschüttert die sozialen Grundüberzeugungen und die soziale Sicherheit. Das kennt man von Terroranschlägen und Gewaltdelikten. Das Vertrauen in das Gute im Menschen ist nachhaltig erschüttert.
Kollegen von Ihnen sind vor Ort und betreuen die Angehörigen. Sie selbst haben Hinterbliebene des Absturzes einer Air-France-Maschine im Jahr 2009 mit 228 Toten psychologisch versorgt. In welchem Zustand befinden sich Menschen, die solch einen Verlust zu verkraften haben?
Schedlich: Die Menschen reagieren völlig unterschiedlich auf ein solches Ereignis. Bei den meisten herrscht Trauer, Entsetzen, Wut und Bestürzung. Manche sind apathisch und teilweise auch aggressiv. Andere reagieren eher geduldig oder kämpferisch. Eines aber haben eigentliche alle gemeinsam: Ein hohes Informationsbedürfnis. Sie möchten genau wissen und begreifen, was passiert ist und was die Ursache ist und wann und wie ihre Angehörigen geborgen werden. Das steht an erster Stelle. Es ist wichtig, dass die Informationen seriös sind und transparent und ehrlich übermittelt werden.
Warum ist es so wichtig, an den Unglücksort zu reisen?
Schedlich: Viele Menschen können nur am Ort des Geschehens nachvollziehen, was sich genau zugetragen hat. Sie wollen ihren Angehörigen dort nahe sein, wo sie ihr Leben verloren haben. Sie wollen aber auch wissen, wie ihre Angehörigen die letzten Minuten ihres Lebens verbracht und wie sie sich wohl verhalten haben. Die Phantasie, sich das vorzustellen, nimmt viel Raum ein.
Nach Auswertung des Voice Recorders weiß man nur, dass die Passagiere wenigen Sekunden vor den Aufprall geschrien haben. Ist das für die Angehörigen eine in irgendeiner Weise hilfreiche Information?
Schedlich: Sie zeigt zumindest, dass ihre Lieben Angst hatten, in den Tod zu gehen. Auch durch das Verhalten des Piloten dürften sie mitbekommen haben, was sich das gerade abspielt. Angehörige versuchen das für sich zu visualisieren, um eine Vorstellung vom Ausmaß dieser schrecklichen Ereignisse zu bekommen. Die Gedanken sind unglaublich intensiv, das beschäftigt sehr.
Wie kann man da überhaupt helfen?
Schedlich: Gerade in dieser Zeit bilden sich Schicksalsgemeinschaften. Die Angehörigen vernetzen sich und tauschen sich aus. Sie sind in ihrem Schmerz vereint. Das ist in jedem Fall sehr wichtig, auch für die weitere Trauerbewältigung.
Wie wird es aus psychologischer Sicht jetzt weitergehen?
Schedlich: Die Beerdigung als ritualisierte Form des Abschieds gilt als wichtige Zäsur, als erster Abschluss. Hier lernen die Menschen den Tod zu begreifen, sie lernen, dass der Tod real ist. Das ist immens wichtig, dass es überhaupt tote Körper gibt. Bei vielen Katastrophen finden sich keine sterblichen Überreste mehr, die man bestatten könnte. Das bringt wiederum eine quälende Ungewissheit mit sich.
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Irgendwann lässt das mediale Interesse nach, in der breiten Öffentlichkeit verblasst das Ereignis. Die Menschen sind dann allein mit dem Erlebten. Wie geht man damit um?
Schedlich: Manche empfinden es als Entlastung, für andere ist es eine Kränkung. Es ist schmerzlich, aus der medialen Wahrnehmung zu verschwinden, da es ein Bedürfnis nach dauerhafter öffentlicher Würdigung gibt. Hier kommt dann wieder der Austausch in den Schicksalsgemeinschaften zum Tragen. Für die langfristige Nachsorge ist auch der Jahrestag wichtig, ein gemeinsames Gedenken, das auch von Politik und Öffentlichkeit gewürdigt wird.
Wer steht einem in der langfristigen Trauerbewältigung überhaupt zur Seite? Ist da eine traumapsychologische Behandlung nicht eigentlich nicht immer ratsam?
Schedlich: Nein, manchmal ist sie sogar eher hinderlich. Viel wichtiger ist ein liebevolles Umfeld. Familie, Freunde, Kollegen oder einfach Menschen, die den Verstorbenen geschätzt haben. Aber auch hier gibt es gewaltige Unterschiede. Manche wollen so schnell wie möglich wieder zum Alltag zurückkehren, andere möchten viel reden, manche schweigen lieber. Das hat auch etwas mit dem Alter zu tun. Jugendliche etwa zieht es zu ihrer Peergroup, also zur ihrer Clique hin. Das finden Erwachsene mitunter befremdlich. Eine Mutter, die beim Air-France-Absturz ihren Mann verloren hatte, sagte mir, dass ihr Sohn plötzlich wieder zum Fußballtraining wolle. Ob das denn normal sei? Ich sagte ihr, lassen sie ihren Sohn Fußball spielen. Das ist völlig in Ordnung.
Kann eine andauernde Trauer auch zur Belastung für Freunde und Bekannte werden? Denken Menschen nicht irgendwann, „ich kann das nicht mehr hören?“
Schedlich: Das Phänomen gibt es natürlich. Trauernde fühlen sich oft alleingelassen, weshalb Trauergruppen, die es eigentlich in jeder Gemeinde gibt, sicherlich eine große Rolle spielen. Gerade wenn - wie in diesem Fall - Kinder versterben, ist das eine große Herausforderung für die Paare und Eltern. Nicht alle können den Partner in seiner eigenen Art zu trauern respektieren. Manchmal zerbrechen Ehen, wenn das gemeinsame Kind gestorben ist. Bei Konflikten muss man schnell nach Lösungen suchen und gemeinsam Hilfe von außen in Anspruch nehmen.
Der Absturz ist im Grunde eine Katastrophe, die weitere Katastrophen nach sich zieht.
Schedlich: Man darf eines nicht vergessen: Trauer kann sehr lange dauern, aber man darf sie nicht zu früh pathologisieren. Aber in der Tat finden manche nicht mehr zurück ins Leben. Sie schlafen nicht, essen nicht, trinken nicht, arbeiten nicht. Manche Menschen benötigen in professionelle Hilfe.
Kann es für die Hinterbliebenen einer solchen Tragödie überhaupt wieder ein normales Leben geben?
Schedlich: Den Tod eines geliebten Menschen zu verarbeiten, ist sehr schwierig. Geburtstage, Weihnachten, andere Jahrestage, das alles muss man bewältigen. Das Verarbeiten bedeutet nie auch Schmerzfreiheit. Aber ja, es kann wieder Normalität geben. Aber vielleicht eine andere als vorher.
Das Gespräch führte Christian Parth