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Rekonstruktion Rekonstruktion: Eine Kette von Fehlern führte zum Zugunglück von Bad Aibling

Von Peter Berger 25.02.2016, 15:44
Helfer am Unglücksort in Bad Aibling
Helfer am Unglücksort in Bad Aibling dpa

Bad Aibling - Die Zugkatastrophe von Bad Aibling, bei der am 9. Februar elf Menschen starben, 18 schwer und 63 leicht verletzt wurden, ist auf eine ganze Fehlerkette des Fahrdienstleiters zurückzuführen.

Nach Informationen des dieser Zeitung hat die Rekonstruktion des Unglücks ergeben, dass dem 39-Jährigen, der um fünf Uhr morgens seinen Dienst antrat, gleich vier schwerwiegende Fehler unterlaufen sein müssen, die er wohl noch erkannte und durch zwei Notrufe zu korrigieren versuchte. Warum der erste Notruf ins Leere ging, ist noch Gegenstand der Ermittlungen. Der zweite ist wohl erst aufgelaufen, als die Züge bereits zusammengestoßen waren.

Offenbar hat der erfahrene Bahn-Mitarbeiter den Zug von Bad Aibling nach Kolbermoor noch auf die Reise geschickt, obwohl er dem Gegenzug im Bahnhof Kolbermoor in anderer Richtung längst schon Grün erteilt hatte. Hat er das vergessen? Hatte er einen Blackout?
Fakt ist: Ein solcher Eingriff in den Bahnverkehr ist technisch auf eingleisigen Strecken nur möglich, wenn man mehrere Sicherheitseinrichtungen bewusst ausschaltet.

Der Erste Fehler

Zunächst hat der Fahrdienstleiter offenbar versucht, dem Zug im Bahnhof von Bad Aibling, der vier Minuten Verspätung hatte, grünes Licht zu geben. „Um den Zug abfahren zu lassen, wollte er eine entsprechende Fahrstraße stellen“, sagt ein Experte, der Einblick in die internen Untersuchungen genommen hat. „Das ging aber nicht, weil er zuvor dem Zug von Kolbermoor nach Bad Aibling schon freie Fahrt gegeben hatte.“

Dieser Zug hatte Kolbermoor um 6:40 Uhr pünktlich erreicht und sollte um 6:45 Uhr weiterfahren. Das System habe dem Fahrdienstleiter deshalb mitgeteilt, dass das nicht möglich sei. Die Strecke sei schon belegt. „Diesen Hinweis muss er quittieren – durch eine entsprechende Handlung am Stelltisch. Das hat er auch getan.“

Der zweite Fehler

Anschließend habe der Mann ein zweites Mal versucht, den Zug in Bad Aibling losfahren zu lassen. „Wieder hat das System reagiert und ihm mitgeteilt, dass dies nicht möglich ist, weil die Gegenrichtung schon freigegeben ist.“

Der dritte Fehler

Daraufhin soll der Bahnmitarbeiter das Ausfahrsignal im Bahnhof von Bad Aibling per Hand auf Grün gestellt haben. „Er hat das Ersatzsignal gezogen, das dann zwar weiter Rot zeigt, aber dem Lokführer mit drei weißen Punkten signalisiert, dass er dennoch fahren kann.“ Der Zug Richtung Kolbermoor verlässt den Bahnhof, obwohl die Gegenrichtung auch Grün zeigt. Doch auch jetzt hätte das Unglück noch verhindert oder zumindest abgemildert werden können. Denn auf der eingleisigen Strecke kommt der Lokführer noch an einem zweiten Signal vorbei, das ebenfalls auf Rot steht.

Der vierte Fehler

Auch dieses Signal muss der Fahrdienstleiter per Knopfdruck als Ersatzsignal per Hand freigegeben haben. „Der Mann ist irgendwo gedanklich falsch abgebogen und hat kontinuierlich viermal gegen das System gehandelt“, sagt der Experte. „Wenn man Ersatzsignal zieht, muss man sich zuvor versichern, dass der Block, in den der Zug dann fährt, auch wirklich frei ist. Das hat er unterlassen.“

Der Sinn von Ersatzsignalen

Ersatzsignale werden zum Beispiel gebraucht, wenn ein Zug auf einer Strecke liegenbleibt und abgeschleppt werden muss. Sonst könnte die Abschlepp-Lokomotive in den eigentlich gesperrten Blockabschnitt auf der Strecke gar nicht einfahren. „Dass sich zwei Züge in einem Block befinden, ist im normalen Betrieb nicht vorgesehen. Sie würden sofort zwangsgebremst, sobald sie ein Rotsignal überfahren.“

Erklärungsversuche

Aber warum hat der Fahrdienstleiter so gehandelt? Fest steht, dass der Zug, der von Kolbermoor nach Bad Aibling fuhr, noch fast fünf Minuten im Bahnhof stand, obwohl das Signal schon auf Grün zeigte. „Der Zug hatte die fahrplanmäßige Abfahrtzeit noch nicht erreicht. Deshalb stand er noch fünf Minuten im Bahnhof. Die Fahrstraße war aber schon geschaltet.“ Hat der 39-Jährige schlicht übersehen, dass er dem Zug schon grünes Licht gegeben hatte. Und hat er geglaubt, es handele sich gleich um zwei technische Defekte an den Signalen der Gegenrichtung, die man per Hand überbrücken musste?

„Irgendwann muss ihm beim Blick auf sein Stellpult aufgefallen sein, dass sich in Kolbermoor ein Zug um 6:45 Uhr in Bewegung gesetzt hat“, sagt der Experte. „Er muss diesen Zug vergessen haben, weil der relativ lange im Bahnhof stand. Alles andere ergibt keinen Sinn, sonst hätte er alle anderen Handlungen nicht vollzogen.“ Als dem Fahrdienstleiter auffällt, dass zwei Züge aufeinander zurasen, setzt er zwei Notrufe ab. Aber warum sind diese bei bei den Lokführern nicht angenommen? Zumindest der erste ging ins Leere. Der zweite soll nach dem Zusammenstoß aufgelaufen sein.

Heftiges Dementi der Bahn

Die Züge kollidieren um 6:47 Uhr bei Kilometer 30,3. Die Deutsche Bahn dementiert heftig, dass ein Loch im digitalen Zugfunk GSM-R auf der Strecke ursächlich sein könnte. Dieses Funkloch habe es zwar gegeben, es sei aber lange vor dem Unglück durch einen „Füllsender“ geschlossen worden. Bei der letzten Überprüfung der Strecke sei festgestellt worden, dass die vollständige Funkausleuchtung gewährleistet war. Bei der Bahn hat man noch keine Erklärung dafür, warum das geschehen ist. Ein technisches Problem beim Aussenden des Notrufs beim Fahrdienstleiter und beim Empfang in den Triebfahrzeugen ist aus Sicht der Bahn ausgeschlossen.

Dies sei das Ergebnis der Eisenbahnunfall-Untersuchungsstelle des Bundes und der Staatsanwaltschaft. Theoretisch sei auch denkbar, dass das GSM-R-Netz der Bahn nicht funktioniert habe, es zwischen Aussenden und Empfang ein Problem gab. Dagegen sprechen die Messergebnisse der Funkausleuchtung. „Es ist auch noch denkbar, dass der Fahrdienstleiter zwei Notrufe erst kurz vor der Kollision abgesetzt hat.“ Die Rekonstruktion der Zeitabläufe habe ergeben, dass dies nicht der Fall war. Warum der Notruf also nicht ankam, ist unklar. „Die Bahn und die Ermittlungsbehörden stehen da noch vor einem Rätsel.“