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Oktoberfest 2016 Oktoberfest 2016: Biertrinken unter verschärfter Sicherheit

Von Melanie Reinsch 23.09.2016, 06:06
Auf Ex: Noch bis zum 3. Oktober wird die Maß gern in einem Zug geleert. Im Schnitt fließen fünf Liter Bier pro Sekunde.
Auf Ex: Noch bis zum 3. Oktober wird die Maß gern in einem Zug geleert. Im Schnitt fließen fünf Liter Bier pro Sekunde. DPA/Andreas Gebert

München - Bertha darf nicht mit auf die Wiesn. Jedenfalls nicht in der großen Tragetasche. Die Ordner mit den neongelben Warnwesten am Eingang zum Oktoberfest schütteln den Kopf, lächeln milde. Der alte Mann mit dem übergroßen froschgrünen Jackett und der karierten Anzughose guckt traurig. Bertha ist seine Puppe, er tätschelt ihren Kopf, der aus der Tasche lugt. „Sie soll was von der Welt sehen“, erklärt er. Doch die Ordner sind streng. Der Mann hat die Tasche an einer der mobilen Schließfächer-Stationen vor dem Gelände abzugeben. Bertha muss fürs Oktoberfest eben auf den Arm genommen werden.

Denn eine Tasche, die mehr als drei Liter – oder auch drei Maß – umfasst, darf dieses Jahr nicht mit auf die Theresienwiese. Immer wieder werden die Gäste per Lautsprecherdurchsagen darauf hingewiesen. Das größte Volksfest der Welt findet unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen statt. Wegen des Amoklaufs in München vom 22. Juli, als der 18-jährige Schüler David S. am Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen erschoss und vier weitere Menschen durch Schüsse schwer verletzte. Wegen des Bombenanschlags in Ansbach, wegen des Axt-Attentats in Würzburg. Drei Anschläge innerhalb kurzer Zeit in Bayern. Nun sollen 450 Wachleute auf dem Festgelände für Sicherheit sorgen.

„Grauslig, aber schee“

Vor 36 Jahren gab es schon einmal einen Terroranschlag auf dem Oktoberfest. Ein Selbstmordattentäter riss mit einer Rohrbombe 13 Menschen mit in den Tod. Mehr als 200 wurden verletzt. Nie wieder soll so etwas möglich sein. Die Nerven der ganzen Stadt sind angespannt.

Die Unternehmerin Regine Sixt hat aus Sorge vor einem Anschlag ihre berühmte Damen-Wiesn in diesem Jahr abgesagt. Auch einige Trachtenvereine wollen in diesem Jahr das Oktoberfest meiden. Zum ersten Mal ist das Areal auch komplett mit einem Zaun abgesperrt. Niemand spaziert hier einfach rein. Jeder muss an den Ordnern vorbei, die am Eingang eine gelbe Kette bilden. Und direkt dahinter kommt auch schon die nächste: Dort stehen Polizisten in voller Montur, mit Waffen, schusssicheren Westen und Knüppeln. 350 Beamte sind täglich auf der Wiesn im Einsatz, 250 weitere im Umfeld.

Etwa zwei Drittel der Gäste hätten zu große Taschen, erzählt ein Ordner. Nicht jeder hat Verständnis für diese neuen Vorkehrungen. Ein Mann habe angefangen zu randalieren. „Jetzt hat er 17 Tage Hausverbot. Er wollte die Zäune einreißen“, erzählt der Wachmann.

„Das ist doch lächerlich“, ruft ein junges Mädchen mit Piercing in der Lippe zornig. Gerade wurde auch sie abgewiesen. „Wir könnten es an einem anderen Eingang probieren“, sagt ihre Freundin. Doch dann beugen sie sich beide dem Diktat, geben ihre Rucksäcke ab und schlendern kurze Zeit später auf das Festgelände.

Wenige Meter hinter dieser Schleuse wird man von einem Geräusch- und Geruchsteppich überrollt. Der Duft gebrannter Mandeln mischt sich mit dem von Bratwurst und Popcorn. Das düstere Raunen aus der Geisterbahn wird überlagert von der Stimme einer Frau, die ins Hinrichtungsvarieté laden will – eine der ältesten Einrichtungen auf der Wiesn. Dazwischen tröten, klingeln und rattern die rund 170 Fahrgeschäfte, während Bässe stumpf zwischen den Buden wummern. Man hört Englisch, Spanisch, Italienisch, Bayerisch. 19 Prozent der Gäste kommen aus dem Ausland. Eine Gruppe Japaner kann ihr Glück kaum fassen. Die Männer haben sich gerade einen halben Meter Bratwurst im Baguette gekauft, machen Selfies und sind sich uneins, wie sie das lange Elend nun verzehren sollen.

Die Münchnerinnen Hildegard Temel und Angelika Ehm nehmen gerade einen Kaiserschmarrn an einem Stehtisch in der Sonne zu sich. „Ich bin überhaupt nicht ängstlich. Ich fühle mich dieses Jahr so sicher wie noch nie auf dem Oktoberfest“, sagt Hildegard Temel. Viele ihrer Bekannten und Verwandten würden das Fest in diesem Jahr ausfallen lassen – aus Angst vor einem Anschlag. Sie gehe trotz alledem. Oder gerade deshalb. „Die Attentäter wollen doch erreichen, dass wir Angst haben. Ich lass’ mir meine Wiesn nicht nehmen. Die gehört zu München wie die Frauenkirche.“

Angelika Ehm erzählt, ihr Bruder gehe dieses Jahr nicht auf die Wiesn. Als 1980 der Anschlag aufs Oktoberfest verübt wurde, saß er wenige Meter neben dem Tatort in einem der Zelte. Die Erlebnisse und die Angst seien nach dem Amoklauf im Juli wieder hochgekommen.

Warum nicht jeder Oktoberfest-Brauchtum zauberhaft ist

Die meisten Besucher scheinen diese Gedanken für eine Weile verdrängen zu können. Sie wollen feiern, Spaß haben, trinken, schunkeln. Touristinnen in kurzen Plastikkleidchen, Männer mit Filzspitzhüten und bunten Sonnenbrillen und Familien in Dirndl und Lederhose bummeln die unzähligen Buden entlang. Hier trifft der Oberbayer mit Feder am Hut auf die Australierin, für die es eine Mordsgaudi ist, sich ein bisschen zu verkleiden und irgendwann auf den Bänken zu tanzen. Für Ersteren ist die Wiesn eine Institution, für die man seine edelste Trachtengarderobe aus dem Schrank holt. Für Letztere ist das Oktoberfest eine Dauerparty zwischen Ballermann und Karneval. Beide Seiten sind vereint in der zärtlichen Hassliebe, die viele Münchener für das Oktoberfest empfinden, frei nach dem Motto: „Grauslig, aber irgendwie schee.“

Drinnen im Hofbräu-Zelt ist am Nachmittag gerade eine junge Frau auf einen der Tische geklettert. Blonde, geflochtene Zöpfe liegen auf ihren Schultern, sie trägt ein marineblau-weißes Dirndl. Mit beiden Händen setzt sie ihren halbvollen Bierkrug an und trinkt. Das ganze Zelt – mehrere Tausend Menschen – feuert sie an. Männer trommeln wie wild mit der flachen Hand auf die Tische, rufen, pfeifen, klatschen, grölen. Andere stellen sich auf die Bänke. Das Mädchen trinkt. Und trinkt. Und trinkt. Bis der Krug leer ist. Sie legt ihren Kopf schief, winkt stolz in die Menge. Frenetischer Applaus. Und schon steigt der nächste auf den Tisch. Maß-Exen ist in diesen Tagen Volkssport in München. 7,5 Millionen Liter Bier sind 2015 auf dem Oktoberfest getrunken worden.

„Eine Maß ist ein ganz anderes Bier-Gefühl“, sagt später am Tag Peter Pongratz. „Nicht so wie ein Kölsch, wo man gleich drei Gläser auf einmal bestellen muss.“ Er ist Chef des Paulaner-Festzelts Winzerer Fähndl. 14 dieser Großzelte stehen auf der Theresienwiese, ihre Wirte sind berühmt in München. Die Zelte heißen um Beispiel Fischer-Vroni, Schottenhamel oder Ochsenbraterei, das bekannteste ist wohl das Promi- und Gourmet-Zelt Käfer’s Wies’n-Schänke.

Zehn Prozent mehr Personal

Pongratz empfängt in einem gemütlichen Hinterstübchen seines knapp 9 000 Menschen fassenden Festzelts. Hopfenranken schmücken das Séparée, alte Fotos vom Oktoberfest hängen an den Wänden. In der Luft hängen die Rauchschwaden seiner Havanna-Zigarre. „Wir machen gerade eine Weinprobe, ein toller Sauvignon, guter Tropfen“, schwärmt Pongratz, schwenkt sein Glas und nimmt einen Zug von seiner Zigarre. Zwar trinke er gern Bier, aber eigentlich sei er Weintrinker, bekennt der 69-Jährige, während das Gejohle der Gäste und die Musik der Blaskapelle hereindringt.

„Ein bisschen angetrunken muss man auf der Wiesn schon sein“, sagt er und zwinkert. „Nicht betrunken. Nur angetrunken.“ Ob das Oktoberfest nicht immer mehr zum Ballermann verkomme? Pongratz findet, dass sich das inzwischen wieder normalisiert habe. Seit etwa zwei Jahren machten sich die Leute wieder schick und kämen vermehrt in Tracht.

Seit 54 Jahren arbeitet der Münchener in der Gastronomie, seit 14 Jahren gehört Pongratz das Paulaner-Zelt. „Wiesn-Wirt, das ist der Lebenstraum eines jeden Wirts“, sagt er. „Das Oktoberfest ist einzigartig. Ich freue mich jedes Jahr neu drauf und bin aufgeregt. Das hört nie auf.“

In den 17 Tagen bis zum 3. Oktober muss alles reibungslos funktionieren: 272 Bedienungen stemmen und schleppen in Schichtarbeit Krüge und Hendl zu den Tischen. Manche schaffen 14 Maß auf einmal, sieben in jeder Hand. 70 Köche bereiten im Paulaner-Zelt täglich 10 000 Essen zu, 112 Wachleute passen auf, dass nichts passiert. Auch Pongratz hat in diesem Jahr wegen der Sorge vor einem Anschlag rund zehn Prozent mehr Personal eingestellt. „Die meisten Leute wissen, was auf sie zukommt und dass sie kontrolliert werden. Wir wollen kein Risiko eingehen“, sagt er. Ein bisschen ruhiger sei es in diesem Jahr. Das liege am Wetter und sicher auch daran, dass einige sich von den Sicherheitsvorkehrungen abgeschreckt fühlten.

„Schlafen Sie nicht im Park“

Am ersten Wochenende kamen rund 500 000 Menschen aufs Oktoberfest. In den Jahren zuvor waren es doppelt so viele. 2015 besuchten rund sechs Millionen Menschen das Fest. „Abgerechnet wird immer erst am Schluss“, sagt Pongratz.

Bislang verzeichnete die Polizei rund zehn Prozent weniger Einsätze. Genug zu tun haben die Beamten trotzdem: Da bewerfen sich Männer mit Maßkrügen, dort werden Taschen geklaut, oder es wird Frauen unter den Rock gegriffen. Auch eine Vergewaltigung konnten die Beamten verhindern. Und am Mittwoch rief ein Mann vor einem Zelt „Allah ist groß“.

Da das Fest vor allem bei Amerikaner so beliebt ist, hat die US-Botschaft auf ihrer Homepage extra einen Leitfaden mit Tipps für den Besuch des Oktoberfestes veröffentlicht. „Schlafen Sie nicht im Park! Taschendiebe halten immer Ausschau nach Bierleichen“, heißt es darin. Denn traditionell versammeln sich diese zum gemeinschaftlichen Rausch-Ausschlafen auf dem „Kotzhügel“ hinter den Zelten.

Auch an diesem Abend haben sich dort die ersten schon angefunden. Halbnackte Bierbäuche formen kleine Hügel auf der Wiese. Das Oktoberfest bleibt Tradition. Doch nicht jedem Brauchtum wohnt unbedingt ein Zauber inne.