Messerattacke Messerattacke: 15-Jähriger galt als "aggressiv und unbeschulbar" - Lünen unter Schock

Köln/Lünen - Der Schulbetrieb hat wieder begonnen, aber an Unterricht war nicht zu denken. Lehrer, Schüler, ja eine ganze Stadt ist noch erschüttert von dem, was sich am Dienstagmorgen an der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Lünen ereignet hatte. Auf dem Schulflur war ein 14-Jähriger von einem Mitschüler erstochen worden. Der jugendliche Täter floh nach der Tat, wurde aber von der Polizei gefasst und am Mittwoch dem Haftrichter vorgeführt. Gegen ihn wurde Haftbefehl wegen Mordes erlassen.
In der Vernehmung habe er zugegeben, seinen Mitschüler in den Hals gestochen zu haben, erklärte die Polizei Dortmund. Er begründete seine Tat damit, sich provoziert gefühlt zu haben, da der 14-Jährige seine Mutter seiner Meinung nach mehrfach provozierend angeschaut habe.
15-Jähriger war polizeibekannt
Der 15-jährige Deutsche, der auch einen kasachischen Pass besitzt, soll polizeibekannt gewesen sein, erklärten die Behörden. Eine Sozialmitarbeiterin, so die Polizei, habe ihn als „aggressiv und unbeschulbar“ eingeschätzt. In die Käthe-Kollwitz-Schule war er gemeinsam mit seiner Mutter und einer Sozialarbeiterin gekommen.
„Die ganze Stadt steht unter Schock“, sagte Lünens Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns sichtlich bewegt. Am Mittwochmorgen traf NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) an der Schule ein. Schüler und Lehrer gedachten dem Toten mit Blumen und Kerzen, auch ein Fanschal von Borussia Dortmund hing am Zaun, dem Lieblingsklub des Jungen, der selbst in der C-Jugend kickte. Der ganze Schultag stand im Zeichen der Trauerarbeit. Psychologen und Notfallseelsorger hielten sich für Lehrer und Schüler bereit. „Wichtig ist dabei, dass ein stabiler Rahmen bestehen bleibt“, sagt Stephanie Witt-Loers, Trauerbegleiterin von „dellanima“ aus Bergisch Gladbach. Daher sei es wichtig, den Alltag fortzusetzen, das gebe den Schülern Halt.
Schülern Halt geben
„Durch den gewaltsamen Tod eines bekannten Menschen werden Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit ausgelöst, daher ist es für Schüler sehr wichtig zu sehen, dass bestimmte Dinge wie der Schulalltag, die Schulgemeinschaft eben noch funktionieren. Zugleich muss Raum und Zeit für die Trauer zur Verfügung stehen, auch langfristig“, so Witt-Loers. Es sei jetzt wichtig, das Begreifen des Geschehen zu ermöglichen. Zur Trauerarbeit gehörten daher sachliche Informationen über das, was passiert sei, sowie Hinweise zu möglichen Trauerreaktionen.
Aufsehen erregte die Nachricht, dass es in einer anderen Schule in Lünen, einer Hauptschule, Warnungen vor zunehmend bewaffneten Schülern gegeben hatte. Eltern hatten den Brief an die Schulleitung adressiert. Die Gewerkschaft der Polizei forderte eine spezielle Messer-Statistik in NRW. Gerade 15 bis 25 Jahre alte Männer trügen diese häufiger bei sich. In der Kriminalstatistik für NRW 2016 werden 2841 Körperverletzungen an Schulen aufgeführt. Unklar bleibe, wie die Verletzungen zugefügt wurden, weil die Statistik nicht nach Waffen unterscheidet.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer verweist darauf, dass die Zahl der Kinder, die an Schulen so schwer verletzt würden, dass sie ins Krankenhaus müssten, von 1997 bis 2016 um 64 Prozent gesunken sei. Diese Daten würden exakt erfasst. Zudem sei seit 1993 generell die Zahl der Tötungsdelikte von Jugendlichen (14 bis 18 Jahre) um 47 Prozent zurückgegangen. „Egal welche Statistik wir nehmen: Wir gelangen zu der Einschätzung, dass Tötungsdelikte durch junge Menschen eine extreme Ausnahme werden“, sagte Pfeiffer. Als Gründe nannte Pfeiffer den drastischen Rückgang des elterlichen Schlagens. Die Jugend würde am stärksten vom Wandel der Erziehungskultur profitieren. Auch das Landeskriminalamt NRW meldet Rückgänge bei Körperverletzungen an Schulen.
Der Deutsche Lehrerverband hält dennoch eine breitere Unterstützung für den Kampf gegen die Gewalt an Schulen für erforderlich. „Schule alleine und auf sich gestellt kann wenig bewirken“, sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Es sei aber klar, dass Eltern mit den Lehrern an einem Strang ziehen und die Politik den Lehrern in solchen Fällen Rückendeckung geben müssten. Meidunger spricht von mehr Gewalttaten an den Schulen und stützt sich hierbei auf eine Studie des deutschen Beamtenbundes. Darin erklären 55 Prozent der befragten Lehrkräfte, dass es in den letzten fünf Jahren Fälle gab, in denen Lehrkräfte direkt beschimpft, bedroht, beleidigt, gemobbt oder belästigt wurden. Er forderte zu einer besseren Werteerziehung auf.
„Mehr Sozialarbeiter nötig“
Eine neue Ethik sei nicht erforderlich, findet Dorothea Schäfer, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft NRW. Die Frage sei eher, wie das Unterstützungssystem der Schule verbessert werden könne. In Lünen handele es sich um einen „sehr extremen und tragischen Einzelfall“, sagte Schäfer dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Dieser habe die besondere Schwere bekommen, weil es in der Schule geschehen sei. „Es hätte genauso gut in der Fußgängerzone passieren können.“ Aber die Schule müsse grundsätzlich in der Lage sein, einzugreifen und Unterstützung zu bieten. „Wir glauben, dass man mehr Sozialarbeiter benötigt, auch der schulpsychologische Dienst in Nordrhein-Westfalen zu schwach besetzt.“
Bei sehr schwierigen Kindern oder Jugendlichen sei der letzte Schritt, die Schulpflicht ruhen zu lassen. Die GEW-Vorsitzende sagt, selbst wenn die Gewaltdelikte, bei denen Ärzte eingeschaltet werden, abgenommen hätten, sei das Verhalten von Schülern in den letzten Jahren „sicherlich nicht einfacher geworden“.
Die Psychiater Josef Sachs und Volker Schmidt, die sich mit Totschlag oder Amokläufen befasst haben, raten den Eltern „mehr Mut zur Erziehung“, wie auch der Titel ihres Buches lautet. Oftmals würden Gewalttäter aus zerrütteten Familien stammen. Diese Kinder hätten eine niedrige Frustrationstoleranz und würden unberechenbar reagieren. Gewalttaten würden nicht aus heiterem Himmel passieren. Die Tat habe Vorläufer in der Fantasie, weil die Jugendlichen sie in Gedanken durchspielen. „Diese Gewaltfantasien senken die Hemmschwelle.“

