Kriminalität Kriminalität: Wie wird ein Mensch zum Kannibalen?
Kassel/dpa. - Die blutigen Fantasien beginnen meist im Kindesalter. Schon mit zehn oder elf Jahren toben in den Köpfen von manchen späteren Kannibalen erschreckende Gedanken, wie der Psychiater Prof. Andreas Marneros berichtet. Über Jahre hinweg werden die Vorstellungen immer bedrängender - bis der Wunsch, menschliches Fleisch zu essen, schier unbeherrschbar wird. «Bei allen vier Kannibalen, die ich bisher untersucht habe, haben diese Fantasien sehr, sehr früh angefangen», sagt der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Halle-Wittenberg.
Warum ein Mensch zum «Menschenfresser» wird, darüber gibt es jedoch nur magere wissenschaftliche Erkenntnisse. Weltweit sind nach Darstellung des Wiesbadener Kriminalpsychologen Prof. Rudolf Egg zwar eine ganze Reihe von Fällen des so genannten sexuellen Kannibalismus bekannt - darunter auch der «Kannibale von Rotenburg», der im Frühjahr 2001 einen Berliner Ingenieur getötet und Teile von ihm gegessen haben soll. Der 42-Jährige muss sich vom 3. Dezember an wegen Mordes vor dem Landgericht Kassel verantworten. «Aber es gibt zu wenig Fälle, um daraus allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten.»
Die Persönlichkeit von Kannibalen sei enorm unterschiedlich, sagt Marneros. Eine schwere Persönlichkeitsstörung, die auf Konflikten mit der eigenen Identität beruhe, liege jedoch bei fast allen Betroffenen vor. Dabei könne es sich etwa um eine Sexualisierung des allgemeinen Kannibalismus handeln, wie er von Naturvölkern bekannt sei. Auf diese Weise wollten Kannibalen Eigenschaften der Getöteten - wie Tapferkeit und Kraft - in sich aufnehmen, schrieb schon der Psychoanalytiker Sigmund Freud in seinem Werk «Totem und Tabu» (1913).
Der sexuelle Kannibalismus sei eine krankhafte Fortsetzung dieser archaischen Überzeugung, erklärt Marneros. «Die Verschmelzung mit dem Anderen ist ein zentraler Aspekt, eine pathologische Zuspitzung des Satzes 'Ich hab dich zum Fressen gern'.» Der Kannibale wolle die verzehrte Person für alle Zeiten als Teil von sich behalten, sagt Egg. «Das ist eine extreme Form des Sich-Einverleiben-Wollens - und damit etwas ganz anderes als Sadismus, bei dem man jemanden quält und sich an seinem Leiden ergötzt.»
Ein Kannibale habe eine lange sexuelle «Lerngeschichte» hinter sich, betont der Psychologe. Manche Menschen errege es etwa, beim Schlachten von Tieren zuzusehen. Diese Erfahrung könne Anstoß sein, sich den Augenblick der Lust immer wieder vorzustellen - und sich dabei selbst zu befriedigen. Irgendwann aber, sagt der Kriminalist und Schriftsteller Stephan Harbort, elektrisiere die Fantasie nicht mehr. «Das ist wie bei einem Film, den man schon 25 Mal gesehen hat. Dann muss der nächste Schritt kommen, die Umsetzung in die Realität.»
Das Internet sei hier ein ideales Forum, um Gleichgesinnte zu treffen und sich gegenseitig in kannibalistischen Fantasien zu bestärken, meint Egg. «In den Internet-Foren spielen möglicherweise 80 Prozent nur mit der Faszination des Abartigen - aber 5 oder 10 Prozent wären vielleicht bereit, noch einen Schritt weiter zu gehen.» Und wenn sich dann ein Opfer anbiete, reiche das häufig als Auslöser.
Ist die Hemmschwelle einmal gefallen, sagt Harbort, steige die Wiederholungsgefahr drastisch. «Bei der fortschreitenden Form dieser massiven sexuellen Störung ist die Rückfallgefahr extrem groß», bestätigt Psychiater Marneros. Die Kannibalen, die er untersucht habe, seien regelrecht «besessen» gewesen von ihrer Perversion. Weil sie sich kaum gegen die Obsession wehren konnten, attestierten ihnen Gerichte eine verminderte Schuldfähigkeit. Einer der Verurteilten sei bereits seit 20 Jahren im Maßregelvollzug untergebracht, in dem psychisch kranke Straftäter behandelt und weggeschlossen werden.
Auf die Gesellschaft wirkten Kannibalen anziehend und abstoßend zugleich, ist Harbort überzeugt: «Sie machen uns durch ihre Abscheulichkeit Angst - aber gleichzeitig sind sie ein willkommener Türöffner, um einen Blick in ihr Horrorkabinett zu werfen.»