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Insel Rügen Insel Rügen: Erinnerungen an die Schneekatastrophe von 1978/79

Von Martina Rathke 27.12.2018, 07:29
Mit schwerer Technik hilft die sowjetische Armee die Landstraße bei Lebbin (Kreis Altentreptow) von meterhohen Schneeverwehungen zu räumen, anderswo sind Panzer im Einsatz (Archivfoto vom Januar 1979).
Mit schwerer Technik hilft die sowjetische Armee die Landstraße bei Lebbin (Kreis Altentreptow) von meterhohen Schneeverwehungen zu räumen, anderswo sind Panzer im Einsatz (Archivfoto vom Januar 1979). dpa-Zentralbild

Bergen - Die Katastrophe kam aus heiterem Himmel: Nach einem milden Weihnachtsfest rollte Ende Dezember 1978 eine gewaltige Kaltfront auf Norddeutschland zu.

Innerhalb weniger Stunden fielen die Temperaturen von milden 5 Grad auf minus 20 Grad. Auf der Insel Rügen, auf der rund 3000 Urlauber ihre Weihnachtsferien verbrachten, erstarrte im Laufe des 29. und 30. Dezember 1978 für rund eine Woche das öffentliche Leben.

Straßen wurden unpassierbar, rund 40 Dörfer waren nicht mehr erreichbar, Telefon- und Stromleitungen brachen unter der Last der Schneemassen. Der Winter vor 30 Jahren wurde im Norden Deutschland zum schlimmsten seit Generationen.

Wie ein Blizzard überzieht die Eisfront mit sibirischer Kälte zunächst den Norden und später den gesamten Osten Deutschlands. Züge bleiben für Tage im Schnee stecken. Die Braunkohletagebaue um Leipzig - Lebensader der DDR-Industrie - kommen fast vollständig zum Erliegen, unzählige Schweine und Rinder verenden in der Kälte.

Für die Wirtschaft ist der Eiswinter 1978/79 ein schwerer Rückschlag. Wie viele Menschen allein im Osten Deutschlands umkommen, ist bis heute unklar. Als viele Rüganer bereits ums Überleben bangen, verkennt die DDR-Führung noch lange das Ausmaß der Katastrophe. Erst am 3. Januarschickt sie Panzer auf die Insel Rügen, die eine Woche von Bahn-,Schiffs- und Straßenverkehr abgekoppelt war.

Viele Vorpommern können die Tage zwischen Angst und Hoffen bis heute nicht vergessen. «Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen», erinnert sich die Verwaltungsangestellte Birgit Rau. Die damals 17-jährige Rüganerin brach mit einer Reisetasche voller Geschenke von Sagard zu ihrem Freund nach Nipmerow auf. Der Fußmarsch, für den sie im Normalfall eine Stunde benötigt, sollte zu einem Schicksalsgang werden. «In dem Schneechaos sah ich nur noch die Spitzen der Telegrafenmasten.» Mit letzter Kraft erreichte sie auf halber Streckedas Wachhäuschen der streng gesicherten Sendestation der 6. Flotilleder DDR-Marine in Hoch-Seelow. Doch der Matrose schickte sie wegen fehlender Dienstanweisung wieder hinaus in den Schnee. Dort ging demvöllig erschöpften Mädchen nur ein Gedanke durch den Kopf: «Deine Eltern, dein Freund - niemand weiß, wo du bist.»

Ronald Rosenhan war damals diensthabender Offizier in der Sendestation. «Birgits Glück war, dass die Wasserleitungen vereistwaren», erinnert er sich. Der damals 41-Jährige ging zum Pumpenhäuschen. Dort, auf einem Schneehaufen, sah er Birgit Rausitzen. Mit einem Koppel band er das Mädchen an seinen Körper. Gemeinsam arbeiteten sich beide durch meterhohe Schneewehen nach Nipmerow. «Als wir dort ankamen, bedankte sie sich kurz undverschwand im Haus.» Ihren Namen hat er nicht erfahren.

Obwohl beide nicht einmal 20 Kilometer voneinander entfernt leben, sollten sie sich erst 23 Jahre später wieder begegnen. Eine Bekannte vermittelte den Kontakt. Aus dem Lebensretter ist einväterlicher Freund geworden, wie Birgit Rau berichtet. «Ich werde Ronald Rosenhan mein ganzes Leben dankbar sein.» Mit dem Mann, fürden sie damals durch den Schnee stapfte und ihr Leben aufs Spiel setzte, ist sie heute verheiratet. Zusammen haben sie zwei Kinder.

Auch auf dem vorpommerschen Festland spielten sich dramatische Szenen ab: Der hochschwangeren Dietlinde Luchterhand aus Oberhinrichshagen platzte am 31. Dezember 1978 die Fruchtblase. Zunächst hoffte die damals 29-Jährige, ihr drittes Kind im Haus der Schwiegereltern zur Welt bringen zu können. «Plötzlich, vermutlichaus Angst, setzten die Wehen aus», berichtet die studierte Tierärztin. Ein Nachbar machte eine für damalige Verhältnisse unglaubliche Rettungsaktion möglich. Er organisierte einen Armee-Hubschrauber, der die werdende Mutter in die Klinik flog. Sohn Johannes Paul, der jetzt in Hamburg arbeitet, kam am 1. Januar 1979 im Stralsunder Krankenhaus zur Welt.

Nicht alle Geschichten endeten so glücklich. Erst im Mai 1979, als die Schneemassen auf Rügen geschmolzen waren, wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Fünf Menschen sollen in dem Eiswinter im Osten Deutschlands ums Leben gekommen sein. Die DDR feierte den Einsatz von Sowjetarmee und NVA-Soldaten, die Anfang Januar 1979 mit Panzern auf die Insel vordrangen, als sozialistische Heldentaten. Auf der Insel Rügen, ist sich Birgit Rau heute sicher, hat die Katastrophe vor 30 Jahren die Menschen näher zusammengebracht: «Die Hilfsbereitschaft war enorm.» Einen Schneewinter wie 1978/79 möchtesie aber nie wieder erleben. «Wenn es im Winter ein bisschen schneit,dann kommen sofort die Erinnerungen hoch.»