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Hintergrund Hintergrund: Rätselraten um die Bluttat von Tessin

Von Bernhard Sprengel 15.01.2007, 16:12

Tessin/Boizenburg/dpa. - Die Bluttat von Tessin hat die heileWelt am Boizenburger Elbe-Gymnasium zerstört. «Das waren ganznormale, unauffällige Schüler, fleißig, höflich, intelligent, wie diegroße Mehrzahl unserer Schüler», sagt Schulleiter Norbert Stern. Unddennoch verübten die beiden 17 Jahre alten Gymnasiasten am Samstagdie für viele unfassbare Tat in dem nahe gelegenen Dörfchen: Spätabends klingelten sie an der Tür einer ihnen bekannten Familie,stachen zunächst den Familienvater nieder und töten auch die Mutter.Dann versuchten sie, mit einer 15-Jährigen als Geisel im Auto zuflüchten.

Jetzt herrscht Ausnahmezustand an der Schule. EinKriseninterventionsteam des Landratsamtes, Psychologen und einPfarrer betreuen am Montag die Kinder und Jugendlichen. «NormalerUnterricht ist unter diesen Umständen natürlich nicht möglich», sagtStern. Er ist sich bewusst, dass die neuerliche Bluttat von Schülernnun in eine Reihe gestellt wird mit den Geschehnissen von Erfurt undEmsdetten, wo Schüler auf Mitschüler geschossen hatten. Stern betontaber, dass die jüngste Tat nicht an der Schule verübt wurde. EineErklärung für «die Vorkommnisse» hat er nicht.

Auch die knapp 200 Einwohner von Tessin stehen noch immer unterSchock. Bürgermeisterin Gertrud Geistlinger (70) ist fassungslos.«Ich kann mir keinen Reim darauf machen, ich kann das nichtverstehen», sagt sie mehrmals. Täter und Opfer kannten sich. Einerder Täter kam aus Tessin. Er sei mit dem Sohn des getöteten Ehepaarsimmer gemeinsam zum Schulbus gegangen. Auch das als Geisel genommeneMädchen wohnt im Dorf. Es sei keiner ausgeschlossen gewesen. DieKinder hätten zusammen Fußball gespielt und an Festen teilgenommen.Die ganze Sorge der Bürgermeisterin dreht sich nun darum, dassniemand ausgegrenzt wird, auch nicht die Familie der Täter.

Ihre engagiert vorgetragene Forderung nach einem Verbot vongewaltverherrlichenden Computerspielen klingt wie der verzweifelteVersuch, das Geschehen doch noch zu erklären. Ob die beiden 17-Jährigen tatsächlich solche Hobbys hatten, weiß Geistlinger nicht.Tatsächlich nahmen die beiden Jungen an der Schule an einemComputerkurs teil. Dabei sei es aber nicht um «Ballerspiele», sondern«eine ganz normale Programmiersprache» gegangen, sagt derSchuldirektor.

Die 40 Lehrer des Elbe-Gymnasiums bemühten sich um ein breitesAngebot für die 600 Schüler, die dort von Klasse 6 an denGanztagsunterricht besuchen. Viele Schüler engagierten sich inInitiativen gegen Rassismus. Gab es aber auch Rechtsextremisten? «DieSchule ist Teil der Gesellschaft, und was es in der Gesellschaftgibt, ist auch in der Schule vorzufinden», sagt Stern vorsichtig.

Das Gymnasium liegt am Rande der Kleinstadt und ist in einemtypischen DDR-Bau aus den frühen 70er Jahren untergebracht. Nach derWiedervereinigung wurde die ehemaligen Erweiterte Oberschuleschrittweise in ein Gymnasium umgewandelt. Der Ruf der Schule seigut, sagt Schulrat Matthias Zwerschke vom staatlichen SchulamtSchwerin. Zu dem großen Einzugsgebiet gehörten auch Schüler aus demnahen Niedersachsen. Drogen- oder Alkoholprobleme habe es bislangnicht gegeben. «Für die Klassenlehrerin war das ein unglaublicherSchock», sagt Stern. Der Mittfünfziger mit grauem Bart und eckigerBrille ist selbst sichtbar mitgenommen von dem Geschehen.

Jetzt möchte er seine Schüler schützen. Darum dürfen sie nicht mitPressevertretern sprechen. Ein Freund der 15-Jährigen, die als Geiselfestgehalten worden sein soll, tut es dennoch. Die beiden 17-Jährigenhätten sie am Samstagabend angesprochen. «Kommst Du mit auf 'neDorfrunde?», sollen sie das Mädchen gefragt haben. Sie seimitgekommen und dann gleich gefesselt und geknebelt worden, sagt derSchüler, der seinen Namen nicht nennen will. Die beiden Täter seienEinzelgänger gewesen, meint er noch.