Vergessene Kinderspiele "Himmel und Hölle" oder der Gummihopse: Kinderspiele sind heute vergessen

Der Fuß an der unsichtbaren Linie schiebt sich noch ein Stückchen vor. Der Arm wird lang, ganz lang. Federnd bewegt sich die vorgestreckte Hand auf und ab, der Gesichtsausdruck ist gespannt, der Blick eines Skispringers auf dem Bergisel ist nichts dagegen.
Jetzt geht es um alles, das Auge zielt, die Hand wirft. Ein Pfennigstück fliegt Richtung Handwand, flach, vielleicht zu flach, schnell, vielleicht zu schnell. Ein leises Alu-Pling, ein leises Alu-Plong. Die Münze fällt, sie prallt, die Münze rollt. Einen Zentimeter von der Wand entfernt bleibt sie liegen. Keine andere ist näher dran.
Beim Schangeln, wie es zumindest in weiten Teilen des DDR-Bezirkes Halle traditionell gespielt wurde, war nun aber erst die Hälfte der Arbeit getan. Es folgte die Abteilung Artistik: Alle von den Mitspielern geworfenen Pfennige zu einem Türmchen aufschichten. Das Türmchen vorsichtig auf dem Daumenansatz platzieren. Hochwerfen, aber nicht zu hoch. Mit dem Handrücken so federnd abfangen, dass möglichst keine Münze zu Boden fällt. Das Ganze noch einmal in die Luft befördern. Und schließlich so viele Pfennige wie möglich mit einem entschlossenen Griff in die Luft mit der ausgestreckten Hand fangen.
Die Ausführungsregeln unterscheiden sich, doch so oder so ähnlich wurde Schangeln - anders- wo auch „Anmäuerln“, „Ditschen“, „Klimpern“, „Pfennigfuchsen“, „Pingeln“, „Schummeln“ oder „Schebbeln“ genannt - nicht nur in Ostdeutschland gespielt.
Im Ruhrpott verzichten sie beim „Pinkern“ auf die Wurfphase, dafür aber durfte das Geldstück nicht gefühlvoll an die Mauer geworfen, sondern es musste aus mehreren Metern geschnipst werden. In Nordthüringen dagegen bauten Spieler eine zusätzliche, kaum überwindbare Hürde ein: Nach dem Hochwerfen des Geldtürmchens musste der Ellenbogen zum Fangen benutzt werden.
Kein Schulhof in den 70ern, auf dem nicht Jungen trotz Verbotes eine Mauer fanden, an der sich Schangeln ließ. Es ging natürlich um Geld, denn wer ein gutes Auge hatte, temperiert warf und geschickt beim Fangen war, der konnte pro Spielrunde je nach Anzahl der Mitspieler und benutzter Münzart 10 oder 50 Pfennig oder sogar eine Mark Gewinn einstreichen.
„Doch vor allem ging es um unterhaltsamen Wettbewerb ohne aufwendige Spielgeräte“, sagt der ehemalige Halle-Neustädter Michael Bahn, der seinerzeit selbst begeistert mitspielte. Mehr als eine - idealerweise gerade - Mauer, ein paar Geldstücke und eine unaufmerksame Pausenaufsicht brauchte eine Schangelrunde nicht. Und das war sogar noch viel.
Alte Kinderspiele aus der DDR: Diese Spiele sind heute untergegangen
Andere beliebte Spiele einer heute längst untergegangenen und weitgehend vergessenen Zeit kamen mit noch weniger aus. „Herr Fischer, wie tief ist das Wasser“ benötigte nur zwei Bordsteinkanten, „Himmel und Hölle“ ein Stück Kreide und einen Stein und Gummihopse kam mit einem Stück Schlüpfergummi aus. Das reichte den Klassikern der kindlichen Selbstbeschäftigung, um Generationen von Heranwachsenden stundenlang und immer wieder in ihren Bann zu ziehen.
Nicht nur in Deutschland. Simple Kinderspiele waren schon lange vor dem Beginn der Globalisierung Welthits: Quellen aus England besagen, dass das „Schangeln“ oder „Fuchsen“ Anfang des 18. Jahrhunderts zuerst von arbeitslosen Bergarbeitern gespielt wurde.
In einem englischen Kinderbuch aus dem Jahr 1744 findet sich eine Abbildung dreier Männer, die das damals noch „Chuck Farthing“ genannt Geschicklichkeitsspiel betreiben. Später „Penny Pitch“ genannt, war das Spiel in der britischen Öffentlichkeit genauso verboten wie später auf ostdeutschen Schulhöfen. Doch es wurde mit eben soviel Hingabe gespielt. Irgendwann überwand das Spiel sogar den Atlantik - im Hollywood-Hit „Cincinnati Kid“ mit Steve McQueen ist zu sehen, wie in der US-Südstaatenmetropole New Orleans Münze gegen die Wand geworfen werden.
Spiele ohne Grenzen. „British Bulldog“ nennen Kinder in Großbritannien das deutsche Fischer-Spiel. „Allerdings mussten wir nur ,bulldog, bulldog‘ rufen und dann versuchen, an den Fängern vorbeizukommen“, erinnert sich Neill Matthews aus Südengland. Kein „Wie tief ist das Wasser“, kein Hüpfen oder Tanzen gehen wie in Deutschland. „Dafür aber gebrochene Arme und Beine und blaue Augen - an einem guten Tag“, schmunzelt Matthew.
Kein Wunder, dass „British Bulldog“ im Großbritannien von heute verboten ist. Doch auch „Herr Fischer“ - als „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann“ als reines Linienhaschespiel ohne besondere Bewegungsformen gespielt - ist von den Schulhöfen und Nachmittagstreffpunkten heute genauso verschwunden wie Gummihopse oder das aus einem abgekreideten Spielfeld bestehende „Himmel und Hölle“. (mz)