Gotthard-Tunnel Gotthard-Tunnel: Das Schweizer Wunder weckt große Emotionen

Erstfeld/Pollegio - Die schlimmste Bahnfahrt der Schweizer Literatur hat einst Friedrich Dürrenmatt ersonnen: In seiner Kurzgeschichte „Der Tunnel“ (1952) rast ein Zug in die Dunkelheit, immer schneller, immer weiter - und die Insassen begreifen: Das Ziel ist das „Nichts“. Derartige Schrecken blieben Angela Merkel und den Hunderten anderen Gästen der Eröffnungsfahrten für den Gotthard-Basistunnels dank Schweizer Perfektion erspart - wenngleich so mancher scherzhaft auf Dürrenmatt verweist.
„Eigens für Sie haben wir den Tunnel heute etwas beleuchtet“, sagt die nette weibliche Lautsprecherstimme. „Sonst ist es auf dieser Strecke viel dunkler.“ Und sie fügt hinzu: „Wir fahren auch nicht ganz so schnell wie normal - brauchen daher 30 statt 20 Minuten, damit alle die Tour besser genießen können.“
Gelöst, ja aufgekratzt ist die Stimmung. Manche Passagiere stimmen Lieder an. Handykameras schnappen nur so vor „Selfies“. „Das will ich meinen Enkeln zeigen“, sagt eine rundliche Frau mit rosigen Wangen. „Ich wohne genau da oben“, sagt sie und zeigt an die Waggondecke. „In Sedrun, das liegt etliche Hundert Meter Granit höher.“
Eigentlich sei sie etwas „tunnelscheu“, was für Schweizerinnen sicher komisch sei. „Aber heute bin ich völlig ruhig.“ In der Zeitung hat die Bäuerin gelesen, dass dieses Bauwerk nicht nur mit 57 Kilometern der längste, sondern mit einem Geflecht von Nothilfevorkehrungen auch der sicherste Eisenbahntunnel der Welt sei.
Das beginnt damit, dass dieser Tunnel aus zwei Röhren besteht statt nur einer. Alle 325 Meter sind sie über Fluchtwege miteinander verbunden. Es gibt vier Nothaltestellen. Ein ausgeklügeltes Umluftsystem sorgt dafür, dass gefährlicher Rauch sofort aus den Röhren verschwindet. Außerdem kontrollieren Sensoren alle Züge auf ungewöhnliche Hitze und auf Spuren bestimmter chemischer Stoffe.
Sicherheit wurde auch in der 17-jährigen Bauzeit groß geschrieben. Dennoch starben neun Menschen bei Arbeitsunfällen. „Mein Bruder war unter den Opfern“, berichtet Peter Knapp (58) aus der Gemeinde Harbke in Sachsen-Anhalt. „Er wurde 2003 bei einer Sprengung von Gesteinsbrocken erschlagen, mit 36 Jahren.“
Denkmal für Todesopfer
Knapp und seine Frau Inge waren auch am Vorabend dabei, als ein Denkmal für die neun Todesopfer des Basistunnelbaus eingeweiht wurde. „Das und jetzt auch die Fahrt, das waren gute Gesten. Wir finden jetzt einen Abschluss, wir haben ihn ja damals nicht mehr gesehen.“
Auch Angela Merkel erinnert später bei einer Ansprache auf dem Festplatz von Pollegio am Südende des Tunnels an die Menschen, die beim Bau des Schweizer Jahrhundertwerks ihre Leben verloren. Das kommt gut an. Genau wie ihre überaus lobenden Worte für die ingenieurtechnische Meisterleistung.
Ebenso ihr - geschickt in einem medizinischen Vergleich verpacktes - Eingeständnis, dass die Deutschen im Vergleich zu den Schweizern noch erheblichen Nachholbedarf haben: „Wir wissen, der Gotthardtunnel ist sozusagen das Herz. Die Aorta fehlt noch.“
Güterverkehr soll von der Straße auf die Schiene
Die Aorta - das sind die Zubringerbahnstrecken, ohne die auch das Herzstück der „Neuen Eisenbahn-Alpentransversale“ (NEAT) von Rotterdam bis Genua seine wichtigstes Aufgabe nur sehr eingeschränkt erfüllen könnte: Die Verlagerung weiter Teile des europäischen Nord-Süd-Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene.
Bei einigen wichtigen Teilstrecken liegt Deutschland weit zurück, darunter bei der Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel. Immerhin verspricht die Kanzlerin, nun aufs Tempo drücken zu wollen. „Wir wissen, dass wir verspätet sind.“
Großes emotionales Erlebnis
Martin Herrenknecht hört das wohl - und möchte es auch gern glauben. Für den 74-Jährigen ist die Premieren-Tunnelfahrt „ein ganz großes emotionales Erlebnis, die Erfüllung eines Traums“. Herrenknecht ist Gründer und Chef des nach ihm benannten Weltmarktführers für Tunnelbohrsysteme. Aus seinen Hallen stammten die vier gigantischen Bohrmaschinen mit fast 10 Metern Durchmesser und 400 Meter Länge, mit denen dem Gotthard die beiden „Riesenlöcher“ für den Basistunnel abgetrotzt wurden.
„Dieses ganze gigantische Projekt lief ab wie ein Schweizer Uhrwerk“, erzählt Herrenknecht. Im Vergleich damit seien deutsche Großprojekte wie die Elbphilharmonie, Stuttgart 21, aber vor allem aber der Berliner Flughafen „ein großes Trauerspiel“.
Was machen die Schweizer besser? Die Gesamtleitung des Gotthard-Projekts, sagt Herrenknecht, hätten von Anfang an echte Fachleute gehabt, „nicht Politiker“. Und er verweist auf die direkte Demokratie in der Schweiz: Lange vor Baubeginn sei das gesamte Projekt dem Volk erläutert und zur Abstimmung vorgelegt worden. „Die Schweizer haben sich das gut überlegt, Ja gesagt - und standen dann voll dahinter.“ Kein Wunder, dass sie Jahrhundertprojekt nun mehrere Tage lang mit Volksfesten feiern. (dpa)