1. MZ.de
  2. >
  3. Panorama
  4. >
  5. Tragödie um "Gorch Fock"-Kadettin Jenny Böken: "Gorch Fock"-Kadettin Jenny Böken ( ): Eltern glauben nicht an Unfalltod der Tochter

Tragödie um "Gorch Fock"-Kadettin Jenny Böken "Gorch Fock"-Kadettin Jenny Böken ( ): Eltern glauben nicht an Unfalltod der Tochter

06.04.2017, 06:34
Ein Foto der auf der Gorch Fock ums Leben gekommenen Soldatin Jenny Böken ist auf ihrem Grab auf dem Friedhof von Geilenkirchen-Teveren (Nordrhein-Westfalen) zu sehen.
Ein Foto der auf der Gorch Fock ums Leben gekommenen Soldatin Jenny Böken ist auf ihrem Grab auf dem Friedhof von Geilenkirchen-Teveren (Nordrhein-Westfalen) zu sehen. dpa

Kiel/Geilenkirchen - Mehr als acht Jahre nach dem Tod der „Gorch Fock“-Kadettin Jenny Böken (18) ist nach Ansicht der Eltern der Fall trotz mehrerer Gerichtsprozesse nicht aufgeklärt. „Wir halten es für hochwahrscheinlich, dass Jenny schon an Bord zu Tode gekommen ist, das würde auch erklären, warum sie kein Wasser in der Lunge hatte“, sagte Vater Uwe Böken in Geilenkirchen (Nordrhein-Westfalen) der Deutschen Presse-Agentur. „Einem Unfalltod durch Ertrinken, wie es die Obduktion als wahrscheinlichste Todesursache ergeben haben soll, widersprechen mehrere Ungereimtheiten“, betonte auch Mutter Marlis Böken.

Mittwoch (05.04.17) in der ARD: Film „Tod einer Kadettin“ und die Dokumentation „Der Fall Gorch Fock – die Geschichte der Jenny Böken“

An diesem Mittwoch zeigt das Erste das Drama „Tod einer Kadettin“ (20.15 Uhr) und im Anschluss die Dokumentation „Der Fall Gorch Fock – die Geschichte der Jenny Böken“ (21.45 Uhr). Böken hatte am 3. September 2008 Nachtwache auf dem Segelschulschiff der Marine. Kurz vor Mitternacht soll ein Schrei gehört worden sein, dann hieß es, jemand sei über Bord gegangen. Die Leiche wurde am 15. September 2008 bei Helgoland in der Nordsee entdeckt.

„Ein Mitarbeiter des Forschungsschiffs „Walter Herwig III“ - es hatte den Leichnam geborgen - berichtete, Jenny sei mit ihrem Marineparka aus dem Wasser gezogen worden“, sagte Uwe Böken. Später hieß es, zur Obduktion sei Jenny in Sweatshirt und Marinehose gebracht worden, von einem Parka keine Spur mehr.

„Für mich drängt sich die Schlussfolgerung auf, alles sollte so aussehen, dass Jenny im Wasser noch lebte und sich des Parkas entledigt habe, um besser schwimmen zu können“, sagte der Vater. „Wenn man sie mit Parka in der Nordsee findet und sie kein Wasser in der Lunge hat, hätte jeder Staatsanwalt davon ausgehen müssen, dass sie schon tot war, als sie ins Wasser fiel.“

Eltern von Jenny Böken warten nach „Gorch Fock“-Tragödie noch immer auf ein Paket der Marine

Die Eltern glauben nicht an einen Mord, „aber es könnte ein Streich einer Clique gewesen sein, die Jenny auf der „Gorch Fock“ möglicherweise irgendetwas in den Tee getan hat“. Ihre Tochter habe bei der Marine immer wieder darüber geklagt, extrem müde zu sein und einzuschlafen – „ein Phänomen, das sie vorher niemals hatte“, sagte Böken. Möglicherweise könnte dies mit den zahlreichen Impfungen bei der Bundeswehr zusammenhängen. Das renommierte Paul-Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt habe noch keine abschließende Einschätzung zu dieser These eines Mediziners gegeben.

Seit mehr als acht Jahren warten die Eltern auf ein Paket, das die Marine nach Jennys Tod abgeschickt haben will. Darin sollen Gegenstände aus dem abschließbaren persönlichen Wertfach aus Jennys Spind gewesen sein. „In dem Fach hätte auch das persönliche Tagebuch liegen müssen“, sagte Marlis Böken. „Bekommen haben wir nur Jennys dienstliches Tagebuch, auf das auch Vorgesetzte Einblick hatten.“ Auch dieses enthalte manche Passagen über Mobbing auf der „Gorch Fock“. Über ihr persönliches Tagebuch habe Jenny sinngemäß gesagt, „ihr werdet euch wundern, was ich da noch alles drin aufgeschrieben habe“. Auf der Internetseite jenny-boeken.de hat der Vater sämtliche Ungereimtheiten akribisch dargestellt.

Tod von Jenny Böken im Jahr 2008: Das schwere Schicksal der Eltern

Ein Sprecher der Marine wollte sich auf dpa-Anfrage zu Details des Falls nicht mehr äußern. Es handle sich um ein schweres Schicksal für die Eltern, mit denen man tief mitfühle. In mehreren Gerichtsprozessen sei das Geschehen juristisch aufgearbeitet worden, die Ermittlungen seien abgeschlossen.

Dagegen hoffen die Eltern, „dass von den rund 200 Menschen, die damals an Bord waren, einige doch noch die Kraft finden und endlich berichten, was in der Todesnacht wirklich passierte“.

Der Fall Jenny Böken

Es ist die Nacht zum 4. September 2008. Der Himmel ist klar, das Meer ruhig. Bei Windstärke 7 fährt die „Gorch Fock“, Segelschulschiff der Deutschen Marine, nördlich von Norderney durch die Nordsee. Die Wellen sind etwa zwei Meter hoch, zu wenig, um den 80 Meter langen Dreimaster aus der Ruhe zu bringen. Die 18 Jahre alte Kadettin Jenny Böken hält Nachtwache - und geht kurz vor Mitternacht über Bord. Ihre Leiche wird am 15. September bei Helgoland gefunden.

Jennys Tod bleibt bis heute rätselhaft. Sie sei im Dienst immer mal wieder eingeschlafen, berichteten Zeugen. Die Staatsanwaltschaft Kiel wertete 2009 den Fall als Unglück und hat kein Strafverfahren eröffnet. Im Obduktionsbericht hieß es, Todesursache sei „am ehesten Ertrinken“. Daran zweifeln die Eltern bis heute. Sie verweisen darauf, dass kein Wasser in der Lunge des Leichnams gefunden wurde und auf weitere Ungereimtheiten.

Doch ihr Kampf um die Eröffnung eines Strafverfahrens blieb vergeblich. Deshalb wählten sie „als juristisches Vehikel“ Prozesse vor Verwaltungsgerichten, um die Beteiligten vor Gericht befragen zu können. Das Oberverwaltungsgericht Münster wies die Klage der Eltern auf Entschädigung nach dem Soldatenversorgungsgesetz im September 2016 endgültig zurück. „Für uns ging es aber nicht ums Geld, sondern um Aufklärung, was in der Nacht damals passierte“, sagte Vater Uwe Böken der Deutschen Presse-Agentur.

Regisseur Raymond Ley zum Fernsehdrama „Tod einer Kadettin“

Die 2008 ums Leben gekommene „Gorch Fock“-Kadettin Jenny Böken hätte nach Ansicht des Filmregisseurs Raymond Ley nicht an Bord des Segelschulschiffes der Marine gehört. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur verweist Ley darauf, dass Böken gesundheitliche Einschränkungen hatte und zudem nach einer Beurteilung eine Eignung zum Offizier nicht erkennbar gewesen sei. „Warum Sie an Bord gekommen ist, kann nur die Marine beantworten.“ Die ARD zeigt an diesem Mittwoch (20.15 Uhr) das Drama „Tod einer Kadettin“ und im Anschluss eine TV-Dokumentation des Autorenpaares Ley.

Wollten Sie mit dem Film vor allem das System Marine entlarven oder mehr das tragische Schicksal einer Kadettin nachzeichnen?
Raymond Ley: Uns ging es nicht darum, der Marine Unmenschlichkeit nachzuweisen, sondern hinzuschauen: Wie eine junge Frau von der Gesamtschule kommend, zum kritischen Widerwort erzogen, in eine männerdominierte Welt gerät. Jenny Böken, die auf der Schule sogar eine Klasse übersprungen hatte, wollte den Dienst auf der „Gorch Fock“ nutzen, um Ärztin im Auslandseinsatz bei der Bundeswehr zu werden. Und dann trifft sie auf eine Ordnung an Bord, die Widerspruch erst einmal nicht positiv bewertet. Das kann gut gehen, muss es aber nicht.

Wie haben Sie, Hannah Ley, als Frau das System Marine empfunden?
Hannah Ley: Die Marine ist ja eher konservativ ausgerichtet, pflegt einen seemännischen Machismo, welcher sich nur langsam auf Frauen in ihrer Gemeinschaft einstellt. Für mich ebenfalls schockierend war der Fall der ums Leben gekommenen „Gorch Fock“-Kadettin Sarah Seele, die 2010 im Hafen von Salvador da Bahia in Brasilien aus der Takelage aufs Oberdeck stürzte - ein Beispiel, wie eine auf Befehl aufgebaute Hierarchie Menschen über ihre Grenzen hinaustreibt. Die Kadettin wurde meiner Meinung nach unsinnig immer wieder in die Takelage hochgeschickt.

Hat die Marine mit Ihnen kooperiert?
Raymond Ley: Wir hätten gerne auf der „Gorch Fock“ gedreht (lacht), aber die Marine - das unterstelle ich einfach mal - hätte dann auch gern ins Drehbuch geschaut. Wir hatten mehrere Interviewanfragen – unser Kollege Jan Lerch hat mit Kapitän Norbert Schatz, unser Produzent Nico Hofmann später sogar mit Verteidigungsministerin Frau von der Leyen über ein Gespräch verhandelt, aber letztlich entschied die Marine, niemanden „in Unform“ mit uns sprechen zu lassen. Eine offene, selbst konfrontative Pressearbeit sieht anders aus.

Haben Sie Einschüchterungsversuche erlebt?

Raymond Ley: Wir hatten eine Marineangehörige gefunden, die auf der „Gorch Fock“ war und weiß, wie Frauen dort ausgebildet wurden. Ich wollte unbedingt jemanden beim Dreh dabei haben, der die Befehlsstruktur und die Abläufe an Bord kennt. Als die Soldatin Urlaub bei ihrem Dienstherrn beantragte, wurde ihr vom Marine-Presseamt untersagt, mit uns zu arbeiten. Man rief uns entrüstet an: „Was macht ihr da? so geht das nicht.“ Uns wurde nahegelegt, weitere Kontaktaufnahmen zu unterlassen. Einschüchterung gab es also nicht direkt, aber das geht schon sehr weit.

Wie haben Sie dann fachlichen Rat bekommen?
Raymond Ley: Die Kandidaten für die militärische Beratung fielen ein wenig wie die Blätter vom Baum. Erst als die UFA in ihrem Pressetext andeutete, dass wir nicht von einem Mord an Bord der „Gorch Fock“ ausgehen, sondern die verschiedenen, denkbaren Varianten, wie auch Unfall- oder Freitod zeigen, tauchte auf einmal ein freundlicher, kompetenter Seemann auf, der lange auf dem Segelschulschiff war und zum Freundeskreis der „Gorch Fock“ gehört. Der Kapitän sagte „Jetzt haben wir das gelesen, jetzt helfe ich euch mal“.

Warum haben Sie alle Möglichkeiten, wie Jenny Böken zu Tode gekommen sein könnte, aufgezeigt, sich aber für keine entschieden?
Hannah Ley: Wir hätten auf Mord „spielen“ können. Diesen konnten wir aber in der Recherche nicht beweisen – genauso wenig wie einen Freitod Jenny Bökens oder einen tragischen Unfall. Ohnehin war es für uns interessanter und dramaturgisch wertvoller, die verschiedenen Varianten im Film durch den an Bord anwesenden Journalisten filmisch gegeneinander zu stellen.

Wer hat für Sie am meisten Schuld am Tod von Jenny Böken?
Raymond Ley: Auf der Marineschule Mürwik hat man Jenny Böken bescheinigt, eine Eignung zum Offizier sei bei ihr nicht zu erkennen. Sie hatte auch mehrere gesundheitliche Einschränkungen. Man hätte dieses Mädchen nicht mit an Bord nehmen dürfen. Warum Sie an Bord gekommen ist, kann nur die Marine beantworten.