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Gezeugt bei Vergewaltigung Gezeugt bei Vergewaltigung: «Denkt auch mal jemand an die Kinder?»

Von petra pluwatsch 08.02.2013, 17:47

Halle (Saale)/MZ. - Anita Klaus weiß, dass sie kein Kind der Liebe ist. "Bei meiner Zeugung war Gewalt im Spiel", sagt sie so nüchtern, als verlese sie den morgigen Wetterbericht. "Meine Mutter hat mir erzählt: ,Er ist zu mir ins Zimmer gekommen und ich konnte mich nicht wehren.' Neun Monate später wurde ich geboren."

Sehr viel mehr hat die Mutter bis zu ihrem Tod nicht preisgegeben über jene folgenreiche Nacht vor 63 Jahren, als sie gegen ihren Willen ihre Unschuld verlor und ein Kind bekam. Nichts über den Sturm, der losgebrochen sein muss in der Zechenhaus-Siedlung von Bottrop, als die Schwangerschaft der damals 17-Jährigen offenkundig wurde. Nichts über den Vergewaltiger, einen 20 Jahre älteren Familienvater aus der Nachbarschaft. "Das alles ist in unserer Familie ein einziges großes Tabuthema", sagt Anita Klaus.

Klein und schmal, das kurze rotblonde Haar akkurat frisiert, sitzt sie in einer penibel aufgeräumten Wohnung am Rande von Köln und knetet ihre Hände: aprikosenfarbene Wände, heller Teppich und helle Möbel, eine Couchgarnitur aus cremefarbenem Leder. Auf dem Wohnzimmertisch steht ein Schwarz-Weiß-Foto mit gezackten Rändern, das sie als Zweijährige im Kinderheim zeigt.

Ihren richtigen Namen möchte die 62-Jährige nicht nennen. Wichtig sei allein die Geschichte, die sie nach vielen Jahren des Schweigens erzählen möchte: die Geschichte einer erzwungenen Zeugung und deren Folgen. Seit Wochen wird über den Umgang katholischer Krankenhäuser mit Vergewaltigungsopfern diskutiert. "Denkt eigentlich jemand an die Kinder, die aus einer solchen Tat entstehen?" fragt sie. Kinder wie sie selber eines ist. "Es macht mich zornig, dass diese katholischen Würdenträger bestimmen wollen, was man einer Frau und ihrem unerwünschten Kind zumuten kann. Meine Mutter hatte 1950 keine andere Wahl, als mich zur Welt zu bringen. Doch manchmal denke ich: Was wäre ihr und mir erspart geblieben, wenn sie mich nicht hätte bekommen müssen!"

Bis heute überschattet die Gewalttat, der sie ihre Existenz verdankt, das Leben der pensionierten Verwaltungsangestellten. "Ich habe auch Schönes erlebt, aber es war ein sehr hartes und schweres Leben. Es gab Zeiten, in denen ich mir wünschte, ich wäre nie geboren. Zumal ich glaubte, alles Schlimme, das mir widerfährt, verdient zu haben. Denn ich war ja kein Kind der Liebe. Ich war eigentlich gar nicht vorgesehen und es nicht wert, geliebt zu werden."

Die Biografie der Anita Klaus gleicht einem Puzzle, in dem entscheidende Teile fehlen. "Ich habe immer gehofft, dass mir meine Mutter vor ihrem Tod die ganze Wahrheit erzählt und wir unsere Geschichte gemeinsam aufarbeiten können", sagt sie. "Leider ist es dazu nicht mehr gekommen." Unstrittig ist, dass ein Bekannter aus der Nachbarschaft die damals 17-jährige Emma vergewaltigt, als die bei der Familie übernachtet. Der ältere Bruder ist über Weihnachten zu Besuch gekommen, und sie musste in der elterlichen Wohnung ihr Bett für ihn freimachen. Offensichtlich verschweigt die junge Frau ihren Eltern gegenüber den Vorfall. "Sie hat mir einmal erzählt, dass sie sich nicht getraut hat, etwas zu sagen, weil die Familien eng befreundet waren. Sie besuchten sich oft und machten gemeinsame Ausflüge", erinnert sich Anita Klaus. Doch irgendwann lässt sich die Schwangerschaft nicht länger verbergen. Ob jemand den Zustand der jungen Frau bemerkt, ob sie den Eltern schließlich selber erzählt, was ihr widerfahren ist - Anita Klaus weiß es nicht.

Die jüngere Schwester der Mutter erinnert sich noch, dass eine städtische Fürsorgerin die Schwangere abholt. Gegen ihren Willen wird sie in ein Auto verfrachtet und in ein von Diakonissen geführtes "Heim für gefallene Mädchen" gebracht. Emma habe sich gewehrt und geschrien, erzählt die Schwester, die das Geschehen von einem Fenster aus beobachtet. Wenige Monate später wird Anita geboren.

Mutter und Kind werden schon bald nach der Geburt getrennt. Emma kommt in einer anderen Stadt unter und beginnt, als Hilfskrankenschwester in einem Krankenhaus zu arbeiten. Wenig später lernt sie ihren zukünftigen Ehemann kennen, einen jungen Schlosser.

Anita bleibt allein im Heim zurück. Gelegentlich darf Emma die Tochter besuchen und ihr durch eine Glasscheibe zuwinken; Körperkontakt ist nicht gestattet. "Als meine Mutter mich zu sich genommen hat, war sie eine Fremde für mich", sagt Anita Klaus.

Bis heute quälen die 62-Jährige Erinnerungsfetzen an jene zweieinhalb Jahre im Heim. Sie sieht "eine dunkle Limousine und lange schwarze Hosenbeine mit weißen Nadelstreifen". Viele Jahre kann sie die Bilder nicht einordnen, fühlt nur ein diffuses, ängstliches Missbehagen bei dem Gedanken daran. Sexuelle Kontakte sind ihr bis heute eine Qual. Erst während einer Psychotherapie, die sie 1994 beginnt, begreift die inzwischen über 40-Jährige, dass sie als Kleinkind im Heim missbraucht worden sein muss. Mit vier Jahren wird ihr ein weiteres Mal Gewalt angetan. Ein Onkel, weiß sie heute, ist der Täter. Da lebt sie bereits im Haushalt der Mutter, die inzwischen geheiratet und eine zweite Tochter geboren hat.

Das Verhältnis zwischen Emma und ihrer Erstgeborenen, von Anfang an belastet durch den erzwungenen Liebesakt in jener Winternacht, bleibt angespannt bis kurz vor dem Tod der alten Dame im Jahr 2010. "Meine Mutter hat mich nie in den Arm genommen oder mir einmal einen Kuss gegeben", erinnert sich Anita Klaus an eine Kindheit ohne Liebe und Zärtlichkeit. "Was ich auch tat, es war nie gut genug. Sie hatte immer etwas an mir auszusetzen."

Oft setzt es aus nichtigen Anlässen Prügel. "Sie hat mit allem zugeschlagen, was ihr in die Hände fiel. Mit dem Kochlöffel, mit dem Handfeger." Meist geht der Stiefvater dazwischen und versucht, Schlimmeres zu verhindern. Der Groll, den sie als Kind der Mutter gegenüber empfand, ist inzwischen Trauer und Mitleid gewichen.

Anita ist 15, als sie von ihrem damaligen Freund erfährt, dass der Stiefvater nicht ihr leiblicher Vater ist. "Wahrscheinlich gehörte ich zu den wenigen im Ort, die das nicht wussten", sagt sie. Zögerlich nur gibt die Mutter preis, wer sie Weihnachten '49 geschwängert hat: ein Nachbar, dem sie eine Weile den Haushalt führte. Später revidiert sie die Geschichte: ein Nachbar, bei dem sie während der Festtage übernachtete. Nur in einem Punkt gleichen sich die Versionen: Die Mutter ist von dem wesentlich älteren Mann zum Sex gezwungen worden.

"Ein ganz mieser Typ war das", sagt Anita Klaus heute über den Mann, der sie vor 63 Jahren zeugte. "Ich bin froh, dass ich ihn nie kennengelernt habe. Ich wüsste nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte." Ihre Augen hinter der Brille blitzen. Seit Mitte der 80er Jahre hat sie Kontakt zu einer sieben Jahre älteren Halbschwester. Die, sagt sie, habe einen "totalen Hass" auf den gemeinsamen Vater. Brutal und gewalttätig sei der gewesen, ein Weiberheld und Alkoholiker, der die Familie tyrannisierte. Dennoch hat Anita Klaus jahrelang mit sich gerungen, ob sie Kontakt mit ihm aufnehmen soll. "Natürlich hatte ich meine Fantasien, wie mein Vater aussehen könnte und was für ein Mensch er ist. Ich habe mich nie bei ihm gemeldet, weil ich dachte, der ist bestimmt total sauer auf mich und will mich nicht sehen, weil er für mich zahlen musste." Mit 17 stürzt sie sich in eine von Gewalt geprägte Ehe und bekommt einen Sohn. Mit 21 lässt sie sich scheiden und heiratet erneut. Auch diese Ehe scheitert nach wenigen Jahren. "Ich wusste ja gar nicht, was Liebe ist", sagt sie heute. "Ich habe mich immer nach einem Zuhause gesehnt, egal, wo und mit wem. Aber ich habe mich nie irgendwo zu Hause gefühlt."

Mitte der 90er Jahre beginnt Anita Klaus aufzuräumen in ihrem Leben. Da ist sie Mitte 40, drei gescheiterte Ehen und ein Selbstmordversuch liegen hinter ihr. Sie leidet unter Depressionen und Selbstzweifeln, die sie durch extremes Leistungsbewusstsein zu kompensieren versucht. "Ich wollte alles 100-prozentig machen und habe mich ständig selber überfordert." Als ihr dritter Ehemann sie wegen einer Frau verlässt, die das Leben leichter zu nehmen versteht als sie, klappt sie zusammen. In jahrelangen Therapien versucht Anita Klaus die Last ihrer Geburt und die Folgen einer lieblosen Kindheit zu verarbeiten. Auch das Verhältnis zur Mutter bessert sich langsam. "Das letzte halbe Jahr mit ihr war schön, und dafür bin ich sehr dankbar", sagt die Tochter. "Da hat sie sich schon mal bedankt, wenn ich bei ihr geputzt habe. Einmal hat sie sogar angerufen und sich erkundigt, wie es mir geht. Da ist mir fast der Hörer aus der Hand gefallen."

Anita Klaus knetet ein letztes Mal ihre Hände. Mehrmals hat sie die Tränen zurückhalten müssen während des Gesprächs. "Heute bin ich weitgehend im Reinen mit mir", sagt sie. "Ich bin froh, dass ich lebe. Auch wenn dieses Leben nicht immer leicht war."