Geschichte Geschichte: Massen-Freitod oder Sekten-Mord?

Buenos Aires/dpa. - Mütter hieltenihre Kinder in den Armen, Männer ihre Frauen, alle tot, fast allequalvoll an mit Zyankali vergifteter Limonade gestorben. Den Babyswurde die bittere Giftbrühe in den Mund gespritzt. Es war eine derschlimmsten Fälle von Massen-Selbsttötung und Massenmord in derbekannten Geschichte der Menschheit.
«Wenn man uns nicht in Frieden leben lässt, so wollen wirjedenfalls in Frieden sterben», hatte der charismatische Gründer derSekte Peoples Temple, Jim Jones, mit leicht schleppender undelegischer Stimme auf seine Gefolgsleute eingeredet. «Der Tod ist nurder Übergang auf eine andere Ebene», lullte der 47-Jährige dieMenschen ein und versuchte so, Zweifel und Angst vor dem nahen Endezu vertreiben.
Ganz freiwillig gingen aber wohl lange nicht alle der Opfer am 18.November 1978 in den Tod. Überlebende berichteten später, dass um dasVersammlungshaus der landwirtschaftlichen Urwaldkolonie bewaffneteWachen aufgezogen waren. Etliche tote Sektenmitglieder hattenSchusswunden. Was anfänglich wie eine Massen-Selbsttötung ausreligiösem Wahn erschien, schilderten die Überlebenden später eherals Massenmord. «Sie haben uns einfach umgebracht», sagt etwa dasfrühere Sektenmitglied Tim Carter in dem Film von Stanley Nelson«Jonestown». Zumindest bei den etwa 250 getöteten Babys, Kindern undJugendlichen handelt es sich sicher um Mord.
«Dies ist kein Selbstmord, sondern ein revolutionärer Akt»,beschwor hingegen Jones, der sich meist hinter dunklen Sonnenbrillenversteckte, seine Anhänger. Sie waren ihm aus den USA in densüdamerikanischen Dschungel gefolgt. Dort sollte nach seiner wirrenHeilslehre das Paradies auf Erden Wirklichkeit werden. Der Traum vonRassengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und einem liebevollen Umganguntereinander endete indes in einer Katastrophe.
Am 17. November war der US-Kongressabgeordnete Leo J. Ryanzusammen mit Journalisten und einigen abtrünnigen Sektenmitgliedernnach Jonestown gekommen. Er wollte den sich häufenden Berichten übersexuellen Missbrauch von Sektenmitgliedern durch Jones, unerträglicheLebens- und Arbeitsbedingungen, über Freiheitsberaubung und Folter indem Musterdorf nachgehen.
Jones hatte zunächst versucht, den Besuch zu verhindern. Als dasmisslang, arrangierte er ein großes Fest, und zunächst schien allesganz harmonisch zu verlaufen. «Hier sind Leute, die finden, dass dies(die Kolonie) das Beste ist, was ihnen in ihrem Leben je passiertist», sagte Ryan am Abend nach ersten Gesprächen. DieSektenmitglieder klatschten frenetisch Beifall. Am nächsten Morgenaber, kurz vor der Abreise von Ryan, schlug die Stimmung um. Erstbitten einige wenige, dann immer mehr Bewohner von Jonestown darum,mit dem Politiker die Kolonie verlassen zu dürfen. Für Jones, derseit den 70er Jahren zunehmend unter dem Einfluss von Drogen stand,war dies offenbar ein unverzeihlicher Verrat. «Ihr könnt nicht gehen,ihr seid mein Volk», rief er den Aussteigern fast verzweifelt zu.
Der Mann, der aus ärmsten Verhältnissen stammte, dessen Mutterihn für einen «Messias» hielt und der schon mit 19 Jahren seine erstePredigerstelle antrat, reagierte brutal. Vertraute von Joneseröffneten an diesem Tag das Feuer auf Ryan und seine Begleiter, alsdiese gerade ein Flugzeug besteigen wollten. Der Politiker, den zuvorschon ein Sektenmitglied mit einem Messer angefallen hatte, und fünfweitere Menschen wurden zum Teil mit Schüssen aus nächster Näheermordet.
Danach schürte Jones, der schon seit langem eine Atmosphäre derAngst und ständigen Bedrohung von außen aufgebaut hatte, bei seinenAnhängern eine Art von Weltuntergangsstimmung. Nun würden US-Fallschirmjäger kommen, meinte er: «Sie werden unsere Alten undKinder foltern.» Immer schneller versanken er und seine Gefolgsleuteim kollektiven Wahnsinn. Eine Frau, die nicht sterben wollte,erinnerte Jones an sein früheres Versprechen, statt der Selbsttötungin die Sowjetunion überzusiedeln. «Ja, ich rufe gleich dort an»,lautete seine skurrile Antwort, aufgezeichnet auf Tonbändern, diezwischen den Toten gefunden wurden.
Aber dann trieb er die Menschen doch in den Tod: «Beeilt euch,meine Kinder, beeilt euch», rief er mit vor Erregung bebender Stimme,während die Schierlingsbecher reihum gingen. Mit Schaum vorm Mundkippten die Menschen tot um, wo sie gerade standen oder saßen. Einerder Überlebenden sagte später bitter: «Das war keine Revolution, keinAkt der Selbstbestimmung, das war einfach nur ein völlig sinnloserVerlust.» Jonestown brannte Mitte der 80er Jahre ab.