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Familien Familien: Deutschlands Kinderheime sind rappelvoll

Von Martin Holzhause 26.09.2009, 12:04
Ein Achtungsschild mit der Abbildung zweier Kinder steht vor dem Kinderheim Vinzenzwerk in Münster. (FOTO: DPA)
Ein Achtungsschild mit der Abbildung zweier Kinder steht vor dem Kinderheim Vinzenzwerk in Münster. (FOTO: DPA) dpa

Münster/Berlin/dpa. - Keiner hatte sie vor ihren Eltern geschützt. Jugendämterstanden mit jedem neuen Skandal-Fall stärker unter dem Druck derÖffentlichkeit. Immer häufiger nahmen sie dann in den vergangenenJahren Kinder und Jugendliche schon früh aus Problemfamilien. Jetztzeigen sich die Folgen: Deutschlands Heime sind rappelvoll.

«Seit 2006 hat die Zahl der Heimunterbringungen erheblichzugenommen», sagt Diakonie-Experte Karl Späth. Er ist Fachreferentfür Hilfe zur Erziehung beim Bundesverband in Berlin. «Alle unsereEinrichtungen sind fast bis auf den letzten Platz gefüllt.» Das habezwei Gründe. Zum einen seien Behörden merklich sensibler geworden,wenn das Wohl von Kindern gefährdet sei. In den Jahren vor derWirtschaftskrise hätten die Kommunen aber auch gute Steuereinnahmenverbucht und so die kostspieligen stationären Plätze bezahlen können.

Mehr als 32 000 Mal nahmen die Ämter in Deutschland im vergangenenJahr Kinder und Jugendliche in Obhut - oft nur für wenige Stunden,häufig aber auch für lange Jahre. Das ist eine deutliche Steigerungvon 14,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr und sogar von 26 Prozent imVergleich zum Jahr 2005, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbadenbeziffert. Betroffen sind alle Altersgruppen. Doch vor allem jüngereKinder haben die Ämter häufiger zumindest zeitweise aus den Familiengenommen. Der Anteil der unter Dreijährigen lag 2008 bei zehn Prozentund damit doppelt so hoch wie im Jahr 2000. Mittlerweile ist jedesvierte entzogene Kind acht Jahre alt oder jünger.

«Keiner findet, dass Kinder ins Heim gehören», sagt HaraldWeichert. Dennoch sei dies oft zunächst die erste Anlaufstation.Weichert ist seit 23 Jahren Erziehungsleiter im Vinzenzwerk, einem imGrünen gelegenen Kinder- und Jugendheim am Rande von Münster. Die 119Plätze seien fast immer vollständig vergeben, das Durchschnittsalterder Schützlinge spürbar gesunken. Früher seien mehr als 80 Prozentzehn Jahre und älter gewesen, nun sind es nur noch 70 Prozent. Nochvor ein paar Jahren gab es die Überlegung, eine von zwei«Diagnosegruppen» zu schließen. Dort werden Kinder im Vor- undGrundschulalter betreut, bis sie in Pflegefamilien kommen oder zu denEltern zurückkehren. Zur Schließung kam es nicht. «Alle 15 Plätzesind belegt», sagt Weichert.

Jugendhilfe-Träger bauen ihr Angebot an Heimen und Wohngruppenwieder aus. So sind etwa in Westfalen in den vergangenen beidenJahren rund 770 neue Plätze entstanden. «Der Zuwachs istungewöhnlich», sagt Matthias Lehmkuhl, Referatsleiter imLandesjugendamt Westfalen. Aus Gesprächen mit den Spitzenverbändender Einrichtungsträger und dem Austausch mit anderen Ämtern weiß aucher, dass die Heime nicht nur in seinem Landesteil voller gewordensind. Zu Überbelegungen komme es deshalb aber nicht. Diese seienungesetzlich und würden nur in Einzelfällen kurzfristig genehmigt.

Noch in den 90er Jahren waren Heime geschlossen worden. «Mit demKinder- und Jugendhilfegesetz von 1990 wurden verschiedene ambulanteMaßnahmen eingeführt, um Familien in der Selbsthilfe zu stärken»,erklärt die Expertin für Gewaltprävention, Cordula Lasner-Tietze, vomDeutschen Kinderschutzbund in Berlin. Sozialpädagogen betreutenfortan intensiv Familien, in denen es kriselte. Von ihnen gebe esaber einfach nicht genug, um die Familienprobleme zu lösen. «Denntrotz zunehmender Hilfen ist der Personaleinsatz gleichgeblieben.»Von einem Scheitern der Familienhilfe könne aber nicht die Rede sein.

Für Kinder, die aus ihrem Zuhause genommen werden müssen, seienPflegefamilien der richtige Ersatz, um familienähnliche Bedingungenzu bieten, findet Lasner-Tietze. Die Heime seien auf die steigendeZahl junger Kinder nicht ausreichend vorbereitet. Zugleich stecktenjedoch die Jugendämter in dem Dilemma, in sehr kurzer Zeitprofessionelle Pflegepersonen finden zu müssen. «Das ist schwierig.»