Krankenhäuser Experte: Deeskalation in Notaufnahmen nicht immer möglich
Ein brutaler Übergriff in einem Lichtenberger Krankenhaus sorgte nach dem Jahreswechsel für Aufsehen. Wo die Ursachen für derartige Ausschreitungen liegen können und wie sich vorbeugen lässt.
Berlin - In der Debatte um Maßnahmen gegen Gewalt in Notaufnahmen hält ein Charité-Experte Deeskalationstrainings für Personal für nützlich, sie seien aber kein Allheilmittel. Es gebe Fälle, in denen Deeskalationsversuche durch Reden keinen Sinn hätten, etwa wenn Menschen stark betrunken seien, unter Drogen stünden oder sich in psychischen Ausnahmesituationen befänden. „Zu Betroffenen kann man oft nicht mehr durchdringen“, sagte Tobias Lindner, leitender Oberarzt am Virchow-Klinikum der Charité. „Da gibt es Grenzen der Deeskalation.“ Es bleibe Teams dann nur, den Sicherheitsdienst oder gleich die Polizei zu rufen. „Das Personal selbst muss je nach Situation selbst die Flucht ergreifen und sich und die anderen Patienten schützen.“
Die Universitätsklinik, die als eine der größten Europas gilt, bietet seit vielen Jahren Fortbildungen in Deeskalation für Personal. Schon bei einer Untersuchung zum Nutzen vor einigen Jahren habe man gesehen, dass sich die Teilnehmer danach sicherer fühlten im Erkennen von Frühwarnsignalen und in der verbalen Deeskalation, sagte Lindner. „Ob durch die Trainings die Gewaltausbrüche zurückgehen und das auch nachhaltig anhält, ist schwer zu messen.“ Zumindest in einer eigenen Erhebung vor einigen Jahren habe sich ein erheblicher Rückgang an körperlicher Gewalt gezeigt. Die Trainings dauerten zwei Tage, würden monatlich angeboten und seien sehr beliebt.
Null-Toleranz-Linie bei Gewalt nötig
Man kämpfe auch für ein Bewusstsein, dass bestimmte Vorfälle nicht als Teil des Jobs hingenommen werden müssten, sagte Lindner, der seine Habilitationsschrift zu Gewalt gegen das Personal in Notaufnahmen verfasste. „In vielen Bereichen war das für Beschäftigte lange Zeit ganz normal, der Prügelknabe der Nation zu sein.“ In anderen Branchen hingegen gelte es als völlig inakzeptabel, zum Beispiel immer angeschnauzt oder am Kittel gezogen zu werden. „Auch dass betroffenes Personal rechtlich volle Rückendeckung durch den Arbeitgeber bekommt und dass Vorkommnisse dokumentiert werden, ist entscheidend.“ Nötig sei eine Null-Toleranz-Linie beim Krankenhausträger, in Politik und Gesellschaft. „In der Charité wird ein befristetes Hausverbot erteilt, wenn Leute einmal austicken.“
Ursachen seien vielschichtig
Aus Sicht des Mediziners gibt es nicht die eine Ursache für Übergriffe gegen Klinikpersonal. Er habe aber das Gefühl, dass eine Verrohung der Gesellschaft stattfinde und die Anspruchshaltung wachse. „Ich meine insbesondere verbale Aggression. Das ist sicher auch eine Folge der Situation, in überlasteten, engen und vollen Notaufnahmen warten zu müssen.“
Es sei aber ein Trugschluss zu glauben, dass es den Vorfall in Lichtenberg aus der Silvesternacht nicht gegeben hätte, wenn die Notaufnahmen entlastet worden wären, sagte Lindner. „Patienten in Rauschzuständen oder psychischen Ausnahmesituationen mit Gewaltpotenzial gab es immer und die wird man immer haben“, sagte Lindner. Dagegen seien in erster Linie Schließsysteme und ein Sicherheitsdienst nötig.
Ein Patient und seine beiden Brüder hatten am Sana Klinikum Lichtenberg Personal bedroht und attackiert. Ein Video einer Überwachungskamera, das die Brutalität dokumentierte, hatte für Empörung gesorgt. Nach Polizeiangaben sollen die Angreifer betrunken gewesen sein, außerdem seien Betäubungsmittel gefunden worden.
Wie sich vorbeugen lässt
Um zu vermeiden, dass Wartezeiten zum Brandbeschleuniger werden, braucht es laut Lindner eine gute Kommunikation: zum Beispiel, um zu erklären, dass Patienten nach Dringlichkeit behandelt werden. Man müsse aber auch bedenken, dass Patienten mitunter starke Schmerzen hätten, sich Sorgen machten und sich in einer ungewohnten Situation befänden. „Selbst wenn es sich aus medizinischer Sicht bei der Verletzung um eine Bagatelle handelt, muss dem Personal klar sein, dass die Lage für den Patienten nicht alltäglich ist.“ Auch mit der Gestaltung von Warteräumen könne man viel ausrichten, zum Beispiel mit Musik, Wärme, Wasser, Essen, Unterhaltungssystemen. „Die Grundbedürfnisse der Menschen sollten erfüllt sein.“
Die Beschäftigten vor Ort sollten früh erkennen, ob zum Beispiel Patienten oder Angehörige ein Problem haben oder geladen wirken. „Anzeichen können sein, dass jemand vor Ungeduld mit dem Fuß auf den Boden trampelt, hektisch ist, sich unruhig bewegt oder das Gesicht verzieht. Dann kann man gegebenenfalls hingehen und mit den Menschen sprechen, sie fragen, was los ist. Oder ihnen das weitere Vorgehen schildern und zum Beispiel zusichern, dass sich das Personal um eine schnellstmögliche Versorgung bemüht.“ Diese primäre Prävention spiele eine entscheidende Rolle, um zu deeskalieren. „Ignoriert man solche Menschen und lässt sie weiter warten, kann es zur Eruption kommen.“
Gewaltvorfälle an Kliniken lange und international bekannt
Das Phänomen ist nicht neu und nicht auf Deutschland beschränkt. Erste Berichte darüber gab es Lindner zufolge Mitte der 1990er Jahre aus einem Militärkrankenhaus in den USA, wo viele psychiatrisch erkrankte und/oder drogenabhängige Männer behandelt wurden. Seitdem ist die Problematik in zahlreichen Ländern auch wissenschaftlich untersucht worden. Gewalt gegen das Personal von Notaufnahmen sei ein internationales Problem, heißt es zusammenfassend in Lindners Habilitationsschrift. Und: Meist gehe die Gewalt vom Patienten aus. Viele Vorfälle würden vermutlich nicht dokumentiert.