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Einzigartige Geschichte Einzigartige Geschichte: Wie ein Hirnforscher an seinem Sohn den Autismus erforschte

Von Lorenz Wagner 27.01.2019, 12:00
Kai Markram ist Autist und er hatte keine ganz einfache Kindheit. Heute aber lebt er in Israel, er arbeitet als Wachschützer bei Gericht und wird für sein Anderssein von allen geliebt.
Kai Markram ist Autist und er hatte keine ganz einfache Kindheit. Heute aber lebt er in Israel, er arbeitet als Wachschützer bei Gericht und wird für sein Anderssein von allen geliebt. Familie Markram

Halle (Saale) - Das Auto rollte aus, wenige Meter vor ihrem Haus blieb es stehen. Ein junger Mann sprang heraus. Er klappte die Motorhaube auf. „Das darf nicht wahr sein!“ schimpfte er. Kai trat aus dem Vorgarten. Es war Vormittag, ihre Straße lag verlassen da. Kai, seine Eltern und seine beiden Schwestern wohnten auf dem Campus. Selten verirrte sich ein Auto hierher. „Hallo. Ich bin Kai“, sagte er. Der Mann beachtete ihn nicht. „Fährt dein Auto nicht?“

„Nein“, stieß der Mann aus. Wie sollte er ins Institut kommen? Er würde zu spät kommen. Am Tag des Examens! Er würde durchfallen.

Kai drehte sich um und lief weg, nahm etwas heimlich aus dem Flur. Der Mann setzte sich wieder in den Wagen, drehte den Zündschlüssel, der Motor ruckelte und erstarb vollends. Da kam schon wieder dieser Junge. Was zum Teufel wollte er? Er hielt etwas in der Hand. „Hier“, sagte Kai, „du kannst unser Auto nehmen.“

Henry Markram ist einer der bekanntesten Hirnforscher der Welt

Kai liebt die Menschen. Schon als Kind von zwei Jahren wand er sich aus der Hand des Vaters und lief zu den Leuten hin: zu den Passanten, den Alten, die auf den Bänken saßen und sich in der Sonne wärmten. Kai umschlang ihre Beine, ohne etwas zu sagen. Meist erstarrten die Leute. Aber blickten sie nach unten und sah Kai nach oben, fingen sie an zu lachen. Kai sprach mit den Händen. Bald saßen die Alten seinetwegen auf den Bänken, wegen des Jungen, der erst seit kurzem hier wohnte.

Kai war in Deutschland auf die Welt gekommen. Das war 1994, und schon als Kai wenige Tage alt war, erkannte sein Vater, Henry Markram, dass Kai anders war. Ständig spürten seine Augen Geräuschen hinterher, als sei er im Alarmbetrieb. „Keine Sorge“, sagten die Ärzte, „alle Tests sind gut.“ Ein Unbehagen blieb. Markram war selbst Arzt, forschte am Max-Planck-Institut.

Heute ist er einer der bekanntesten Hirnforscher der Welt. Er gewann Preise und initiierte ein Projekt, das sich vornahm, das Gehirn nachzubauen. Die EU gab eine Milliarde Euro Fördergeld. Seit der Jahrtausendwende, so die US-Gesundheitsbehörde, hat sich die Zahl der autistischen Kinder verdoppelt. Eines von 68. Die Forscher sprechen von einer Epidemie.

Kai Markram wollte mit drei Jahren kaum sprechen

Auch mit drei Jahren wollte Kai kaum sprechen. Ihn trieb unbändiger Bewegungsdrang. ADHS, vermutete Henry Markram. Doch mit der Zeit wurden die Hinweise klarer. Kai, der früher um die anderen kreiste, kreiste nun um sich selbst. Er wird doch nicht..., dachte Markram. Autismus. Ärzte nennen es Entwicklungsstörung. Ihre Ursache ist unbekannt. Sie ist im Erbgut angelegt, ausgelöst wird sie im Mutterleib, etwa durch Medikamente. Es muss aber weitere Faktoren geben.

Es gibt Zwillinge, gleiche Gene, und ein Kind ist Autist, das andere nicht. Was nach der Geburt geschieht, spielt eine Rolle. Autisten, so behaupten die alten Bücher, können sich nicht in andere versetzen. Sie ziehen sich zurück, haben Rituale. Jeder Autist ist anders.

Man spricht von einem Spektrum. Manche bedürfen der Pflege, andere leben ein eigenständiges Leben. Sie wehren sich dagegen, „gestört“ genannt zu werden. Besonders bekannt ist Asperger, er gilt als milde Form. War Kai einer? Die Ärzte widersprachen. Autisten gehen nicht so auf Menschen zu wie Kai. Er sei ja „hypersozial“. Aber was war es sonst?

Endlich die Diagnose, Autist

Markam nahm eine Auszeit, ein Jahr Amerika. Was weiß die Forschung, und was kommt davon in den Kliniken an? Als das Jahr vorbei war, wusste er, wie weit weg die Forschung vom Leben war. Kai blieb ihm ein Rätsel. Markram reiste mit Kai zu den besten Ärzten der Welt. Endlich die Diagnose, Autist.

Das hieß damals: Mangel an Empathie, soziale Defizite. Therapie: Gehirn anregen. Aus Henry Markrams heutiger Sicht war das alles falsch. Die Sache mit der Empathie basierte auf einem Experiment: In einem Puppenspiel legt die Puppe Sally eine Murmel in einen Korb und geht hinaus. Herein kommt die Puppe Anne, sie sieht die Murmel, nimmt sie aus dem Korb und versteckt sie in einer Schachtel. Als Sally zurückkehrt, werden die Kinder gefragt, wo sie die Murmel suchen wird. Im Korb, sagt das normale Kind. In der Schachtel, sagen fast alle autistischen Kinder. Sie können sich nicht einfühlen, so die Fachwelt.

Kamila ist Markrams zweite Frau. Sie kamen zusammen, als Kai sechs war. Kamila ist Verhaltensforscherin. Wenn Kai sie ärgern wollte, stellte er sich auf die Bordsteinkante. Er wusste, was das auslöst. Kamila begann, Fachartikel herunterzuladen, kaufte Bücher, sie wusste bald so viel über Autismus wie Henry, aber sie schaute mit anderem Blick darauf.

Was Henry mit dem Mikroskop betrachtete, erkundete sie in Kais Mimik, Gestik, Worten und Ängsten. Es war ein wenig wie mit den Superhelden in den Comics. Sie vereinten ihre Stärken. Zu einer Macht aber wurden sie erst durch Kai. Er brachte in ihre Suche hinein, woran es der Wissenschaft oft fehlt: den ständigen Abgleich mit der Wirklichkeit.

Autismus-Forschung: Verschmelzung von Leben und Lehre

Zu dritt gingen sie einen Weg, den in der Autismus-Forschung so noch niemand gegangen war: die Verschmelzung von Leben und Lehre. Sie machten Versuche mit autistischen Ratten, testeten deren hemmende Hirnzellen, Tag für Tag, über viele Monate. Nichts. Henry wollte hinwerfen, da sagte seine Mitarbeiterin Tania Rinaldi: Was ist denn mit dem Gegenpart? Den Zellen, die Signale verstärken? Volltreffer. Diese waren Hochleistungszellen, unglaublich lernfähig, Signalautobahnen, die Eindrücke rasten nur so. Sie machten viele weitere Versuche, am Ende konnte Henry es kaum fassen: Autisten spürten nicht zu wenig, sie spürten zu viel. Ihr Rückzug war nicht die Störung – er war die Reaktion!

Kai muss in einer ungeheuer intensiven Welt leben, sagte Kamila. Sie nannten es: „Intense World Syndrome“. Die Eindrücke sind überwältigend. Die Stimme der Mutter: ohrenbetäubend, die Lampe: gleißend, das Wolljäckchen: wie Schmirgelpapier. „Wir hätten Kai als Kind zu Hause lassen müssen“, sagt Henry. „Behutsam mit ihm sprechen. Lichter langsam raufregeln. Nie von hinten herantreten. Nur zart berühren.“ Sie aber hatten ihn mit ins Kino genommen, sind mit ihm um die Welt geflogen, alles zu laut und bunt, dazu Medikamente, die das Gehirn anregten. „Wir hatten alles falsch gemacht.“

Autismus: Ängste und Rückzug lassen sich mildern und vermeiden

Aber sie forschten weiter. Und fanden heraus, dass sich die Ängste und der Rückzug mildern und vermeiden lassen. Ein autistisches Kind sollte in einer gefilterten Welt aufwachsen, natürlich nicht von der Welt abgeschottet, aber: „keine Computerspiele, keine knalligen Farben im Kinderzimmer, keine Überraschungen“. Wenn dies bis zum Beginn der Schulzeit geschieht, sagt Henry, ist die größte Gefahr gebannt: dass Teile des Gehirns in eine dauerhafte Überreaktion versetzt werden.

Anfangs gab es Kritik an der Theorie. Neue Studien aber stützen sie. Ärzte aus Toronto und Cleveland stellten fest, dass die Gehirne autistischer Kinder 42 Prozent mehr Informationen verarbeiten müssen als die normaler Kinder. Sie loben Henrys Arbeit. Forscher in Boston stärken sie ausdrücklich. Professoren in Harvard raten zum Schaffen von Vorhersehbarkeit. „Die Leute sagen, Autisten fehlt Empathie“, sagt Henry Markram. „Nein, uns fehlt sie. Für sie.“

Kai ist heute 24 Jahre alt, er lebt in Israel. Kai arbeitet im Gericht, im Wachschutz. Fachleute haben festgestellt, dass Autisten andere unterbewusst beeinflussen. Wer ihnen begegnet, wird entspannter, sie verändern das Klima zwischen Menschen.

Kai wird nicht betreut, sondern gebraucht. Und für sein Anderssein geliebt. Wie damals, als er dem Studenten den Autoschlüssel brachte, der später an ihrer Tür klingelte, die Mutter öffnete: „Ist das Ihr Schlüssel? Ihr Sohn hat ihn mir gegeben.“

„Was?? Kai!!“, rief die Mutter.

„Was würde ich ohne Sie nur machen?“, sagte der Student.

„Danken Sie Kai.“

Lorenz Wagner, „Der Junge, der zu viel fühlte“, Europa-Verlag, 216 Seiten, 18,90 Euro