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Ausgeprägter Tastsinn Brustkrebs-Vorsorge: Diese blinde Berlinerin findet auch die kleinsten Tumore

Von Susanne Rost 03.02.2019, 11:00
Buket Arslan mit einem der Klebestreifen, mit denen sie den Brustkorb in vier Zonen einteilt.
Buket Arslan mit einem der Klebestreifen, mit denen sie den Brustkorb in vier Zonen einteilt. sabine gudath

Dass Buket Arslan fast blind ist, fällt vermutlich niemandem auf, der ihr an diesem Morgen in Berlin-Neukölln begegnet. Sie steigt kurz vor halb acht an der Bushaltestelle Pflügerstraße aus dem BVG-Bus. Sie hat keinen Blindenhund bei sich, sie tastet nicht mit einem Stock nach Hindernissen auf ihrem Weg.

Aber einen Rollkoffer zieht sie hinter sich her, er scheppert laut über das Pflaster des Bürgersteigs. Arslan, 41 Jahre alt, wadenlanger beiger Mantel, rosafarbenes Kopftuch, geht die Straße Richtung Landwehrkanal entlang. Hinter der Brücke biegt sie ohne Zögern nach links in den Weg am Paul-Lincke-Ufer.

Arslan sieht die Schwäne nicht, die gerade auf dem Kanal landen. Die Jogger nimmt sie nur als ganz groben Umriss wahr, erzählt sie. Sie weiß, dass am Uferweg Bänke stehen. Die gebürtige Berlinerin kennt die Gegend aus der Zeit, als sie noch sehen konnte, bevor ihr eine Netzhaut-Krankheit namens Makula-Degeneration das Augenlicht fast völlig nahm. 18 Jahre ist das her.

Buket Arslan findet sich auch deshalb so gut zurecht, weil ihr der Weg von der Bushaltestelle vertraut ist. Schon seit einigen Wochen geht sie ihn immer mittwochs, ihr Ziel ist eine Frauenarztpraxis am Paul-Lincke-Ufer. Frühmorgens geht sie hin, nachmittags zurück. Dazwischen rettet sie im besten Fall Leben.

Mehr als 17.000 Tote im Jahr

Arslan hat einen Beruf, den hierzulande nur knapp 40 Frauen ausüben. Sie ist Medizinisch-Taktile Untersucherin, kurz MTU. Nur blinde oder hochgradig sehbehinderte Frauen können diese Fortbildung machen. Ihr durch das Handicap besonders geschulter Tastsinn wird für die Brustkrebs-Früherkennung genutzt.

Je früher ein Tumor im Brustgewebe bemerkt wird, desto größer ist die Überlebenschance der Betroffenen. Mehr als 70.000 Mal im Jahr stellen Ärztinnen und Ärzte hierzulande die Diagnose Brustkrebs; an keiner anderen Krebsart erkranken Frauen häufiger. Mehr als 17.000 Patientinnen sterben jährlich daran. Dabei wären die meisten Erkrankungen heilbar, wären sie rechtzeitig erkannt und behandelt worden.

Der Duisburger Frauenarzt Frank Hoffmann war es, der im Jahr 2006 die Idee hatte, blinde und sehbehinderte Frauen mit ihrem besonders ausgeprägten Tastsinn so fortzubilden, dass sie in der Brustkrebsfrüherkennung eingesetzt werden können. Aus Hoffmanns Idee entstand die Initiative Discovering Hands. 2007 fand im nordrhein-westfälischen Düren der erste Kurs statt, in dem blinde Frauen zur MTU qualifiziert wurden.

Arslan erfühlt kleinste Tumore

Inzwischen ist aus Discovering Hands ein Unternehmen geworden, das an fünf Orten in Deutschland zusammen mit Berufsbildungswerken die – medizinisch anerkannte – Qualifikation zur MTU organisiert. 26 gesetzliche und alle privaten Krankenkassen übernehmen die Kosten für die knapp 50 Euro teure Untersuchung.

Das Logo von Discovering Hands ist auf das Poloshirt gestickt, das sich Buket Arslan in der Kreuzberger Frauenarztpraxis überstreift. Aus ihrem Spind im hinteren Bereich der Praxis nimmt sie eine große Tasche. Sie tastet sich durch den halbdunklen Flur zu ihrem Behandlungszimmer und richtet es für die erste Patientin her.

Aus ihrer Tasche kramt Arslan auch eine besondere Kette hervor. Sechs unterschiedlich große Holzperlen sind auf einer Schnur aufgefädelt. Die größte Perle hat vielleicht drei Zentimeter Durchmesser, die zweitgrößte ist minimal kleiner. „Tumore dieser Größenordnungen fühlen die Patientinnen selbst“, sagt Arslan.

Arslans Sprechstunden sind schnell voll

Ärzte würden bei der manuellen Untersuchung zumeist Veränderungen der mittleren Stärke – etwa so groß wie eine Murmel – feststellen. Professionell ausgebildete Tasterinnen seien in der Lage, Gewebeveränderungen in der Größe der beiden kleinsten Kugeln zu erfühlen – sie haben 0,6 und 0,8 Zentimeter Durchmesser. Die blinden Profis ertasten circa 30 Prozent mehr Gewebeveränderungen als Ärzte.

„Die Nachfrage ist groß, Frau Arslans Sprechstunde ist immer relativ schnell voll“, sagt Frauenärztin Anke Joachim, die die Praxis mit ihren Kolleginnen Birgit Roth und Birgit Müller betreibt“. Seit September kommt die professionelle Brustuntersucherin regelmäßig einmal in der Woche. „Das Feedback der Patientinnen ist positiv“, sagt Anke Joachim, die Gynäkologin.

Sie ist froh, dass sie nun auch jüngeren Patientinnen eine tiefergehende Untersuchung anbieten kann. Denn das Mammografie-Screening wird erst für Frauen ab 50 von den Kassen bezahlt. Dabei betrifft etwa jede fünfte Brustkrebs-Neuerkrankung Frauen unter 50 Jahren.

Im schlechtesten Fall eine Krebsverdachts-Diagnose

Kämen Frauen zur Krebsvorsorge, sagt Anke Joachim, dann untersuche sie den Busen der Patientinnen manuell. Aber das sei eine Sache weniger Minuten. „Ich habe keine Zeit, jede Patientin eine Stunde lang abzutasten“, sagt die Ärztin mit den kurzen roten Locken.

Und so lange kann es dauern, wenn man es gründlich macht. So wie Buket Arslan. Vor ihr sitzt inzwischen Sarah*, eine 34-jährige Kreuzbergerin mit kurzen Haaren und einer Kaskade von Ringen im Ohr. Kürzlich, bei der normalen Vorsorgeuntersuchung, hat sie von diesem besonderen Angebot erfahren und gleich einen Termin ausgemacht. Sie ist sensibilisiert für das Thema, seit ihre Oma mütterlicherseits mit Anfang 40 an Brustkrebs erkrankt ist. Deshalb will sie alle Vorsorgemöglichkeiten ausschöpfen.

Erst als sie einer Freundin von der MTU-Untersuchung erzählt habe, sei ihr bewusst geworden, „dass es dabei zwei mögliche Optionen gibt“, sagt Sarah. Dass sie nämlich im schlechtesten Fall mit einer Krebsverdachts-Diagnose heimkehren könnte. Da sei sie nervös geworden.

Unterhaltungen während der Brustbetastung

Buket Arslan nimmt die Information über die Krebserkrankung in Sarahs Familie wie andere Basisinformationen über die Patientin zu Protokoll – auf einem Laptop mit einer für Sehbehinderte zugeschnittenen Tastatur. Dann erklärt sie Sarah, dass sie als Erstes deren Brustkorb mit Klebestreifen in vier Zonen einteilen wird.

Die Streifen haben nicht nur eine farbige Markierung, sondern auch punktförmige Erhebungen – vier Punkte bei Weiß, drei Punkte bei Schwarz, kein Punkt bei Rot. So können Blinde ertasten, ob ihre Finger auf Höhe eines roten, eines weißen oder eines schwarzen Zentimeters sind. Durch das Raster kann die MTU genau benennen, wo sie beispielsweise eine Verhärtung gespürt hat. In einem solchen Fall würde sie die Ärztin darüber informieren, die dann die betreffende Stelle per Ultraschall überprüft.

Sarah sitzt still auf der Liege, während Buket Arslan die Klebestreifen auf ihrem Oberkörper anbringt. Auch während des Abtastens ist Sarah ganz ruhig. Nicht alle Patientinnen schwiegen während der Untersuchung, sagt Arslan, andere erzählten in einem fort, vielleicht, um von der etwas ungewöhnlichen Situation abzulenken. Wieder andere fragten sie aus, wollen zum Beispiel wissen, ob sie blind geboren wurde.

Mit 23 Jahren erfuhr sie von ihrer Teil-Erblindung

Buket Arslan machen neugierige Fragen nichts aus. Sie erzählt freimütig von dem Urlaub im Jahr 2000, in dem plötzlich die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Als sie zum Arzt ging, glaubte sie noch, eine Brille könnte das Problem beheben. Doch dann stellte der Mediziner fest, dass bei der damals 23-Jährigen, die als Bürokauffrau arbeitete, eine Ader am Sehnerv geplatzt war.

„Von heute auf morgen konnte ich nicht mehr sehen. Das war frustrierend“, erzählt Arslan. Der zentrale Teil ihres Blickfeldes blieb schwarz. Seither sieht sie lediglich grobe Umrisse, erkennt Gesichter und Buchstaben nur noch, wenn sie ganz nah sind. Als sie den Tipp mit der Qualifikation zur MTU bekam, sei sie erst skeptisch gewesen: „Medizin war so gar nicht mein Ding.“ Auch habe sie anfangs Scheu davor gehabt, fremde Menschen anzufassen, noch dazu an so intimen Stellen. Trotzdem entschloss sie sich, an einem Eignungstest teilzunehmen. 

„Nicht jede Blinde und Sehbehinderte ist geeignet“, sagt Nina Petrick. Sie gehört als Bereichsleiterin Marketing und Kommunikation dem elfköpfigen Hauptamtlichen-Team bei Discovering Hands an. Um Bewerberinnen mit entsprechenden Kompetenzen zu finden, arbeite man mit Blindenverbänden zusammen, der Agentur für Arbeit und auch Veranstaltern etwa von Messen für Sehbehinderte. „Die Nachfrage nach MTUs ist größer als die Zahl unserer Damen.“

Know-how an der Discovering-Hands-Akademie erworben

Für Buket Arslan war es ein Glück, dass sie von der Fortbildung erfahren hat. „Ich habe mich früher so nutzlos gefühlt. Jetzt kann ich durch meine Behinderung Menschen helfen“, sagt sie. Das Know-how erwarb sie an der Discovering-Hands-Akademie in Karlshorst. Monatelange hat sie dort beispielsweise geübt, die Klebestreifen richtig anzubringen. Sie müssen gerade und parallel verlaufen, an exakt beschriebenen Stellen anfangen und enden.

„Wir sind da sehr pedantisch, bei unseren Patientinnen können wir ja auch nicht fünfmal ansetzen, bevor die Streifen richtig sind“, sagt Steffi Gedenk, 38. Sie ist nicht nur eine der erfahrensten MTU in Berlin, sondern auch Ausbilderin an der Karlshorster Akademie.

Der Unterrichtsraum liegt im Souterrain des behindertengerechten Hotels Mitmensch, in dem die blinden und sehbehinderten Frauen während ihrer sechsmonatigen theoretischen Fortbildung untergebracht sind. Drei Frauen üben an diesem Vormittag an Torsi aus Kunststoff, die Klebestreifen richtig anzubringen. Blindenhund Umbra liegt entspannt in der Ecke, die anderen Hunde bevorzugen das Akademie-Büro.

Der MTU-Walzer

Das Bekleben ist nur ein Teil der Ausbildung, mindestens genauso wichtig ist die spezielle Tast-Methode. „MTU-Walzer“ nennt man ihn in Karlshorst, weil sich die Finger in einer Art Dreier-Schritt über die Brust bewegen. Geübt wird dieser Walzer zunächst auf einer Schaumstoffmatte, später am Menschen, auch an erkrankten Patientinnen. Ein Teil der Abschlussprüfung besteht darin, in der Schaumstoffmatte versteckte Körnchen ausfindig zu machen und zu lokalisieren.

„Das war nicht einfach“, erinnert sich Buket Arslan. Im Juni erst hat sie die Qualifikation zur MTU abgeschlossen, zu der auch ein dreimonatiger Praxisteil gehört. Schon dieses Praktikum hat Arslan in der Praxis am Paul-Lincke-Ufer gemacht, in der sie jetzt jeden Mittwoch praktiziert.

Arslan, alleinerziehende Mutter eines 13-jährigen Sohnes, arbeitet noch in zwei anderen Frauenarztpraxen, im Oktober kommt eine weitere dazu. Insgesamt gibt es in Berlin sechs Praxen, die diesen besonderen Service anbieten, und elf ausgebildete MTU.

Im Untersuchungszimmer in der Kreuzberger Arztpraxis tasten sich derweil Buket Arslans Finger sorgsam durch das Gewebe – wer um den Rhythmus weiß, erkennt den Walzerschritt. Sarah liegt mit halb geschlossenen Augen da. Einmal zuckt sie zusammen, es tut weh. „Vermutlich verhärtetes Drüsengewebe“, sagt Arslan, „ein Tumor schmerzt nicht.“ Nach etwa 30 Minuten ist sie fertig, löst vorsichtig die Klebestreifen und sagt : „Alles in Ordnung.“ Angenehm sei die Untersuchung gewesen, sagt Sarah. Man sieht ihr an, wie erleichtert sie ist.

Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung.

*Name von der Redaktion geändert