Besuch im Katastrophengebiet Besuch im Katastrophengebiet: Eine (Zeit-)Reise nach Tschernobyl

Tschernobyl - Nur knapp eineinhalb Stunden Autofahrt trennen die Millionenmetropole Kiew und die Todeszone der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Je näher wir kommen, desto mehr verdunkelt sich der Himmel. Wie passend. Plötzlich taucht ein Schlagbaum auf. Uniformierte Posten schirmen das 30-Kilometer-Sperrgebiet ab. Nur mit „Propusk“ (Passierschein) und ortskundiger Begleitung kommen Besucher hinein.
Jewgen heißt unser Guide. Gewissenhaft erklärt er die strengen Verhaltensregeln: Nichts anfassen! Die Wege nicht verlassen! Nicht essen! Nicht rauchen! Dann zündet er sich eine Zigarette an. Jewgen hat die Ruhe weg und ein Dosimeter, landläufig „Geigerzähler“ genannt, dabei. Das Gerät tickt müde vor sich hin. Dank des Wetters ist die Strahlenbelastung in der Luft heute gering, 0,19 Millisievert am Ausgangspunkt. Das sei zwar rund 50 Mal höher als der normale Wert, aber noch lange nicht gefährlich. Es gibt Bereiche auf dem Gelände, die das 100- bis 1.000-fache der Strahlung abgeben. Jewgen kennt diese „Hot Spots“ – hoffentlich.
Heimat in "der Hölle auf Erden"
Das Städtchen Tschernobyl ist wie ein verwunschener Ort, doch nicht menschenleer. Das Verwaltungsgebäude und die Mentalität der dort Beschäftigten erinnern an die Sowjetzeit. Die meisten Häuser sind verlassen, einige dienen als Unterkunft. Rund 10.000 Menschen sind noch im Katastrophengebiet tätig. Sicherheitsleute, Verwaltungsangestellte, Ingenieure, Arbeiter. Ihre Hauptaufgabe: den vor sich hin bröselnden Unglücksreaktor in einen riesigen Sarkophag zu verpacken und die anderen drei kontrolliert herunter zu fahren. Der letzte der vier Blöcke ging im Jahr 2000 vom Netz. Besucher dürfen sich dem havarierten Block IV bis auf 100 Meter nähern. 1,93 Millisievert zeigt hier das Dosimeter an. Uns beschleicht ein mulmiges Gefühl. Jeder ist froh, hier wieder wegzukommen.
Das ist wahrlich kein Platz zum Leben. Und doch: In einem unscheinbaren Holzhaus, nur drei Kilometer Luftlinie entfernt, brennt Licht. Die Tür geht auf. Ein freundlich lächelndes Mütterchen bittet die seltenen Gäste herein. „Ich bin hier geboren und ich werde hier auch sterben“, sagt Valentina Kowalenko ein wenig trotzig.
„Hier“, das ist der Platz, der vielen als die Hölle auf Erden gilt. Ein Paradies ist die armselige Kate, in der die 75-Jährige mit ihrem Sohn Oleksander (57) wohnt, wahrlich nicht. Doch es ist ihr Zuhause und niemand kriegt sie mehr hier weg. Die Kowalenkos sind so genannte „Siedler“, eine Handvoll Familien, die sich zurückgewagt haben. Sie sind dort illegal, werden aber von den Behörden geduldet.
"Es war ein warmer Tag"
„Alles, was wir brauchen, haben wir“, berichtet die alte Frau. Strom hat das Häuschen. Ein Kühlschrank zählt zum bescheidenen Luxus. In einem Raum steht sogar ein alter Fernseher. Und sicher sei es, scherzt Oleksander: „Ein Türschloss benötigen wir nicht.“ Zum Einkaufen geht es in einen kleinen Laden, der für die Mitarbeiter der Verwaltung gedacht ist. Es gibt auch eine Post und sogar einen Arzt. Der Diabetes plage sie. Sonst sei sie dem Alter entsprechend kerngesund, erzählt Valentina Kowalenko. Auf mögliche Strahlenschäden wurden beide schon lange nicht mehr untersucht.
Sorgen? Die Frage lächelt die warmherzige Frau einfach weg. Nur wenn sie auf ihre Familie angesprochen wird, kullern bitterlich die Tränen. Ihre anderen Kinder und vor allem die Enkelchen vermisse sie doch sehr. Die leben in Kiew, kommen nicht zu Besuch. Umgekehrt verlassen Valentina und Oleksander Kowalenko die Zone nicht. Wer weiß, ob man sie noch einmal zurück ließe.
Erinnerungen an eine glückliche Kindheit
Nach der Reaktorkatastrophe mussten alle Bewohner das Gebiet verlassen. Einige Jahre hatten die Kowalenkos in Kiew gelebt. Was vor 30 Jahren vor ihrer Haustür wirklich passiert war, ahnten sie nicht. Insgesamt rund 160.000 Menschen wurden evakuiert, mehr als 70 Ortschaften im Gebiet Kiew und im belorussischen Gebiet Gomel aufgegeben. Der Name Tschernobyl, auf dessen Gemarkung das Kraftwerk liegt, brannte sich ein. Doch der Ort selbst blieb vom nuklearen Fallout verschont.
Der Schrecken der Katastrophe wird erst in Prypjat wirklich deutlich, Alexander Sirota ist in der Stadt aufgewachsen, die für die Mitarbeiter des Kernkraftwerks gebaut wurde und über die die radioaktive Wolke als erstes zog. „Ich hatte eine schöne Kindheit“, zeigt er Fotos von festlich gekleideten Lenin-Pionieren und einer fröhlichen Jungen-Gruppe auf einem Spielplatz. Einer der damals Zehnjährigen ist er. „Meine Mutter war Leiterin des Kulturpalastes“, sagt er stolz. Von einem Tag zum andern änderte sich ihr Leben.
Aus Lebensmotor wird Totengräber
Als der Mann davon berichtet, verfinstert sich sein Gesicht: „Der 26. April 1986 war ein warmer Tag. Wir spielten draußen. Von dem Unglück wussten wir nichts.“ Das nur knapp fünf Kilometer entfernte Kraftwerk war der Lebensmotor für die 1970 am Prypjat-Fluss gegründete Stadt. Nun wurde es zu ihrem Totengräber.
Alexander und die anderen Kinder merkten bald, dass etwas nicht stimmte. Sie sahen die Rauchwolke am Horizont, die aus dem geborstenen Reaktorgebäude drang. Die Erwachsenen waren unruhig. Offizielle Verlautbarungen blieben aus. Nach und nach sickerten Gerüchte durch. Die Staatsmacht hielt mit Geheimniskrämerei dagegen. Erst als am Tag nach dem Gau die Evakuierung der 50.000 Einwohner angeordnet wurde, war das Ausmaß nicht mehr zu verbergen. „Wir hatten drei Stunden Zeit zu gehen“, erinnert sich Alexander.
Schrecken als Tourismusmagnet
Prypjat ist heute eine Geisterstadt, die in der Zehn-Kilometer-Zone mit der höchsten Strahlenbelastung liegt, 0,67 Millisievert zeigt das Dosimeter im Freien. Die Belastung im Boden ist um ein Vielfaches höher. Nie wieder werden Menschen hier leben. Organisierte Gruppen dürfen für ein paar Stunden hinein. Wer Plattenbausiedlungen kennt, dem kommt der Ort vertraut vor. Das könnte auch Halle-Neustadt oder Stendal-Stadtsee sein.
Eine vierspurige Magistrale, gesäumt von Plattenbauten, führt ins Zentrum. Prypjat hatte alles, was zu einer sozialistischen Mustersiedlung gehört: Kulturpalast, Hotel, Restaurants, Schwimm- und Sporthallen, Kindergärten, Schulen und einen Vergnügungspark. Auf dem höchsten Haus prangt immer noch das Sowjetemblem.
Eine tote Stadt am Leben halten
Die Stimmung wie in einem Endzeit-Thriller. Sind wir die Zombies? Eine dünne Schneeschicht bedeckt den verseuchten Boden. Die Stille wird nur von den Schritten der Besucher unterbrochen. Die Häuser, leere Hüllen. Nur wenige Fenster sind heil geblieben. In den Gebäuden zerbersten Glasscherben unter den Schuhen. Die einstige Mittelschule scheint Hals über Kopf verlassen. Auf den Tischen Schulbücher, aufgeschlagen. Hunderte Gasmasken liegen verstreut. Vieles wirkt surreal, manches für die Besucher arrangiert. Rund 8.000 Touristen jährlich lockt diese Faszination des Schreckens.
Sirota hat einen anderen Grund, immer wieder her zu kommen. Er möchte den Fremden seine und die Geschichte der Stadt erzählen. Der heute 40-Jährige will als Präsident der internationalen Organisation „Zentrum Prypjat“ die Erinnerung an die tote Stadt und ihre Menschen am Leben erhalten. (mz)