Berlin Berlin: Wilhelm Voigt schrieb vor 100 Jahren Geschichte

Berlin/dpa. - Vor 100 Jahren, am 16. Oktober1906, verkleidete sich der arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt alsHauptmann, brachte ahnungslose Soldaten unter sein Kommando undbesetzte in seiner «Second-Hand-Hauptmannskluft» das Rathaus vonKöpenick bei Berlin. Damit jedoch nicht genug. Der heute alslegendärer «Hauptmann von Köpenick» bekannte Voigt ließ denBürgermeister und den Stadtkämmerer «arretieren», auf die Neue Wachebringen.
Statt des erhofften Passes fiel ihm aber nur die Stadtkasse mitmehreren tausend Mark in die Hände. Was die Bürger vor 100 Jahrenallerdings besonders verblüffte, war die Tatsache, dass Voigt keineWaffen oder Gewalt einsetzen musste - sein autoritäres Auftreten inder Uniform eines Hauptmanns genügte, damit die Soldaten undStaatsdiener seinen Befehlen folgten.
Die Polizei versuchte den Schaden zu begrenzen und gab soforteinen Steckbrief heraus: «3000 Mark Belohnung. Kassenraub im Rathausvon Köpenick. Wer kennt den Täter? Etwa 50 Jahre alt, nach vorngebeugte Kopfhaltung. Das Gesicht gelblich, krankhaft, hässlich.Eingefallene Backen, rotblonder, jetzt grauer, stark herabhängenderSchnurrbart. Scharfgeformte Nase, etwas krumme, so genannte O-Beine.»
Viel Erfolg hatte sie damit jedoch nicht. Erst als sich der 57-jährige «Hauptmann» nach wenigen Tagen selbst stellte, konnte er Endedes Jahres zu vier Jahren Haft verurteilt werden. Bis dahin hatte dermehrfach vorbestrafte Schuster, Maschinist und Kohlenschlepper dasAnsehen des Staates jedoch heftig demontiert. Mit einem Schlag hatteVoigt die Autoritätsgläubigkeit und Uniformseligkeit des preußischenStaates ad absurdum geführt.
Das ganze Land lachte über diesen Vorfall. «Ein Gaunerstückchen,äußerst frech und raffiniert ausgesonnen und verwegen in Szenegesetzt», jubelte beispielsweise das «Cöpenicker Tageblatt». Und inder «Berliner Morgenpost» hieß es: «Eine Räubergeschichte, soabenteuerlich-romantisch, wie wir sie sonst aus romanhaftenErzählungen kennen, wie sie uns bisher nur in dem russischenRevolutions-Chaos oder in einem italienischen Briganten-Idyll möglichgeschienen hätte.»
Dennoch wurden auch kritische Stimmen laut: Wie konnte es sein,dass ein falscher Soldat nur mit Hilfe einer Uniform die Zivilgewaltaußer Kraft setzte? Für viele Bürger unterstrich der Vorfall in demBerliner Vorort die bedenkliche Rolle des Militärs im Reich.
Auch heute ist der Hauptmann von Köpenick nicht nur in Berlin einBegriff. Sein Bravourstück ging als «Köpenickiade» in die Geschichteein - ein Begriff, der als Synonym für eine Hochstapelei mit Hilfeeiner Verkleidung gilt. Außerdem inspirierte seine Tat Carl Zuckmayerzu dem erfolgreichen Bühnenstück «Der Hauptmann von Köpenick - Eindeutsches Märchen», das 1931 am Deutschen Theater in Berlinuraufgeführt wurde und später unter anderem mit Heinz Rühmann undzuletzt 1997 mit Harald Juhnke auf die Leinwand kam. 100 Jahre nachdem Vorfall wird der falsche Hauptmann sogar erneut zum KöpenickerRathaus marschieren: Mit einer Parade erinnert der Bezirk am 16.Oktober an seinen berühmten Mitbürger.
Voigt selber wurde nach zwei Jahren 1908 überraschend von KaiserWilhelm II. begnadigt und vorzeitig aus der Haft in Tegel entlassen.Er ging nach Luxemburg und trat mit seiner Geschichte in Varietés undLokalen auf. Das Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud stelltespäter sogar eine Figur von ihm auf. Völlig verarmt starb Voigt imJanuar 1922 im Alter von 72 Jahren in Luxemburg.
