Belgien Belgien: Schwierige Beweisaufnahme nach Dutroux' Kehrtwende

Arlon/dpa. - Unter düsteren Vorzeichen begann am Donnerstag eine äußerst schwierige Beweisaufnahme im Mädchenmord-Prozess gegen den belgischen Kinderschänder Marc Dutroux. Völlig neue Angaben Dutroux' und gegenseitige Schuldzuweisungen der insgesamt vier Angeklagten während ihrer ersten Anhörung dürften die Wahrheitsfindung in den kommenden Wochen erheblich erschweren.
Als erster Zeuge bescheinigte Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte dem Hauptangeklagten, bei der Anlage des Kinderverstecks in seinem Keller mit «einer erschreckenden Professionalität» vorgegangen zu sein. Zynisch war auch Dutroux' Antwort auf Connerottes Frage in einem der ersten Verhöre, warum er die damals zwölfjährige Sabine Dardenne entführt und fast drei Monate in dem kaum zwei Quadratmeter messenden Verlies eingesperrt habe: «Um meine Familie zu vergrößern.»
Das war 1996. Stets hatte Dutroux seither an dieser Aussage festgehalten. Bis zum dritten Prozesstag vor dem Schwurgericht von Arlon. Da erklärte Dutroux plötzlich, der Mitangeklagte Michel Nihoul habe die Entführungen in Auftrag gegeben. Nihoul sei es auch gewesen, der ihm mit dem Mitangeklagten Michel Lelièvre und einem später ermordeten Komplizen zwei achtjährige Mädchen gebracht habe. Und an der Entführung zweier älterer Mädchen seien zwei Männer beteiligt gewesen, die sich später als Polizisten erwiesen hätten.
«Dutroux schockiert weiter», titelte die Zeitung «Gazet van Antwerpen» nach den Aufsehen erregenden Äußerungen. Eine Zuschauerin verließ weinend den Gerichtssaal, ein wütender Mann rief: «Das können und wollen wir nicht glauben!» Auch die Mitangeklagten widersprachen Dutroux' in zahlreichen Punkten. Michelle Martin beschuldigte ihren Ex-Mann, den manche Belgier nur «das Monster» nennen, er habe den Komplizen Bernard Weinstein mit eigener Hand unschädlich gemacht: «Ich sah, wie er das Schlafpulver in die Butterbrote tat.»
Die gegensätzlichen Darstellungen machen es nicht nur den zwölf Geschworenen schwer, die Tötung von vier der sechs entführten Mädchen und die damit verbundenen Straftaten zu klären. Auch die offizielle Rekonstruktion des Todes von Julie, Mélissa, An und Eefje könnte nach Einschätzung von Prozessbeobachtern ins Wanken geraten. Sie basiere nämlich im Wesentlichen auf den Dutroux' Erklärungen seit 1996, bemerkte die Zeitung «De Morgen». Doch die hat er bei seiner ersten Vernehmung im Gericht in zentralen Punkten widerrufen.
«Ein großer Teil der 440 000 Seiten des Dossiers kann nun in den Mülleimer», fasste Martine Van Preat, eine der vier Dutroux-Anwälte, die neue Lage zusammen. Denn in einem Verfahren vor einem belgischen Schwurgericht gelte allein das gesprochene Wort: «Unser Mandant steht zu dem, was er hier erklärt hat, und wird dabei während des ganzen Prozesses bleiben.» Die Verteidiger Nihouls freuen sich über die Aussagen: Dutroux' Worte seien so verrückt, dass ihr Mandant kaum als Chef eines Pädophilen-Netzwerkes verurteilt werden dürfte.
Die Debatte reicht weit über den Gerichtssaal hinaus. «Ich bin sicher, dass Dutroux von mächtigen Leuten geschützt wird», meinte eine ältere Kundin auf dem Wochenmarkt von Arlon am Donnerstag, «und wenn Nihoul reden würde, dann würde Belgien erbeben.» Doch der Käsehändler, dem sie ihre Meinung darlegte, wies solche Vorstellungen zurück: «Wem sollte man denn dann noch glauben?»
Untersuchungsrichter Connerotte berichtete von Drohungen zu Beginn der Untersuchung. Wegen einer ständig wachsenden Gefahr hätten er und Staatsanwalt Michel Bourlet schließlich Personenschutz erhalten: «Das war eine Premiere in Belgien.» Der Schutz endete, als Connerotte von seinen Aufgaben entbunden wurde. Ein Spaghetti-Essen mit betroffenen Familien hatte ihm den Vorwurf der Parteilichkeit eingebracht. Untersuchungsrichter Jacques Langlois übernahm den Fall und gab die Suche nach Netzwerken auf. Langlois soll kommende Woche aussagen.


