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Auswanderer Auswanderer: Wo der Wal zur Roulade wird

Von HANS-ULRICH KÖHLER 10.09.2010, 16:42

Halle/MZ. - Tausendfach stand das blau-weiße Thüringer Porzellan in DDR-Küchenschränken. Seit 13 Jahren steht es in der Küche von Uta und Ingo Wolff auf Grönland. Beim genauen Hinsehen offenbaren die blau-weißen Tassen, dass sie mehr als 13 Jahre auf dem Buckel haben. Denn in ihrem ersten Leben gehörten sie zum Inventar der "Clodramühle", dem Ferienheim der LPG "Elstertal".

Wolffs sorgen dort dafür, dass sich die Bauern im lauschigen Elstertal prächtig erholen. Sie lieben ihre Arbeit im Ferienheim, sie machen sie gut. Die Ferien-Bauern mögen die beiden Urlaubs-Macher aus dem benachbarten Berga. So hätte es weiter gehen können. Dann fällt die Mauer und die Bauern machen ihre LPG zur GmbH. "Noch vor der deutschen Einheit erhielten wir unsere blauen Briefe", erinnert sich Uta Wolff.

Es muss weiter gehen. Zunächst wechseln sie das Ufer an der Elster. Dort steht die "Hammermichel-Baude" leer. Die übernehmen sie und machen sich selbständig, noch ehe im Oktober in Berlin die DDR-Flagge für immer eingeholt wird. Sie sehen die neuen Chancen. Sie erkennen aber auch unbekannte Herausforderungen und trennen sich "ohne Hass von der DDR".

Das Geschäft mit der "Hammermichel-Baude" lässt sich gut an, obwohl die Menschen erst mal ausschwärmen in die neue Welt. Auch Wolffs sind auf Reisen. Grönland schließen sie 1995 ins Herz, aber die "Hammermichel-Baude" ruft. Davon müssen sie und ihre beiden Söhne leben.

Anfang 1997 kommen sie auf der Touristik-Börse in Berlin mit Dieter Zillmann ins Gespräch, Reiseunternehmer auf Grönland. Der will sein Geschäft erweitern. Ein Restaurant in einer ehemaligen Walfänger-Station soll es werden. Dieter Zillmann will mit seinem Schiff "Smilla" Gäste rüber bringen von Ilulissat nach Rodebay, sagt er, eine Stunde durchs Eismeer. Straßen dorthin gibt es nicht. Nirgendwo auf Grönland verbinden Straßen Orte. Zu mächtig ist der Fels an den eisfreien Küsten. Sechs Stunden zu Fuß dauert es bis Ilulissat. Drei Stunden brauchen die Hundeschlitten übers Eis der Disko-Bucht.

Wolffs sind begeistert von der Idee. Aber als sie das erste Mal anlanden in Rodebay, finden sie halb verfallene Häuser vor. Sie ahnen die Arbeit, schwanken, atmen tief durch: Wir machen es trotzdem! Die beiden Söhne stecken in der Berufsausbildung. Sie bleiben bei den Großeltern. Ingo ist jetzt 43, seine Frau 41, kein schlechtes Alter für einen Neuanfang. Aber für verrückt hält man sie in Berga schon. Sie verkaufen die "Hammermichel-Baude". Vom Erlös schaffen sie sich Fenster, Heizung, Mobiliar für Grönland an.

Im einzigen Gastraum vom "H 8" kreist unter den Gästen ein Foto-Album, das die Aufbauarbeiten zeigt. Ingo beim Heizungsbau, Uta beim Dachdecken, beim Fenster einsetzen, beim Fliesen, beim Malern. Sie machen fast alles selbst, das sind sie aus DDR-Zeiten gewöhnt. Uta Wolff ist gelernte Holzbildhauerin, hat im Möbelwerk Zeulenroda ihren Gesellenbrief gemacht. Ihm - ehemals EDV-Experte im "Rechenzentrum der Landwirtschaft Gera" - ist nichts Handwerkliches fremd.

Im Sommer 1997 bringt Käptn Zillman die ersten Gäste rüber zum "H 8". Deutsche, Dänen. Die Einheimischen sehen skeptisch auf die Exoten aus Deutschland: Die halten nie durch! Diese Einsamkeit, die Polarnacht, diese Weglosigkeit! Aus Skeptikern werden in all den Jahren Nachbarn. "Alle Häuser sind offen, keiner hält die Hand auf," sagt Ingo Wolff. 2008 verleihen ihnen die Dörfler die Ehrenbürgerschaft, sie haben es geschafft. Vor wenigen Tagen erst haben die Nachbarn wieder einen Wal gefangen, einen genehmigten, denn die Fangquote ist streng limitiert. Mit einer Seilwinde wurde er aus dem Meer gezogen und gleich am Strand zerlegt. Jeder Dorfbewohner bekommt seinen Anteil vom Wal. "100 Kilo liegen seitdem in meiner Tiefkühltruhe, damit kommen wir bis zum nächsten Frühjahr", sagt Uta Wolff. Aus dem Wal macht sie echte Thüringer Rouladen mit Senf, Speck und Gurken - ein Genuss. Und auf Wunsch gibt es Thüringer Klöße, das mögen auch ihre Nachbarn.

Besucher aus der Heimat geben sich mitunter die Klinke in die Hand, staunen nicht schlecht, wie man so leben kann, auch so ganz ohne Fernsehen. Ihre beiden Söhne finden es toll hier, nur bleiben würden sie nie. Per Laptop und Webcam ist man dicht beieinander. "Das Internet ist drei Mal so schnell wie in Thüringen", strahlt der 56-jährige Ingo Wolff.

Fünf Minuten laufen die Touristen vom kleinen Schiffsanleger über glatte Felsen hinüber zum "H 8". Sie staunen über die vielen Schlittenhunde, die jetzt angekettet auf den Granitkuppen liegen und auf Schnee warten. 200 Hunde gibt es hier, aber in den zwei Dutzend Häusern leben nur 47 Menschen. Wer duschen will, geht in die kollektive Duschanlage. Sie holen das Trinkwasser von einer einzigen Wasserstelle und füllen damit ihre Tanks. Alle die hier leben, arbeiten auch hier. Im Laden, in der Wasseraufbereitungsanlage, als Jäger, als Fischer. Sieben Kinder zwischen sechs und 13 Jahren werden hier derzeit von zwei Lehrern unterrichtet, es gibt eine Gemeindeschwester, einen Dorfladen mit Post, ansonsten haben die Dörfler vor allem sich selbst - und eine traumhafte Kulisse auf dem Meer.

Ganze Karawanen riesiger Eisberge, manche bis zu 50 Meter hoch, ziehen an Rodebay vorbei. Sie entstehen im 60 km langen Eisfjord von Ilullissat. Nirgendwo auf der Welt entstehen so viele Eisberge wie hier. Jener, der der Titanic zum Verhängnis wurde, schwamm seinerzeit an Wolffs neuer Heimat vorbei. Die heutigen Eisberge landen zum Teil in ihrem Restaurant. Das Wasser für die Gäste wird aus tausende Jahre altem Eisbergeis gewonnen.

Auch wenn die Bude rappelvoll ist, geht Ingo Wolff immer von Tisch zu Tisch und fragt, ob alles passt: "Do you like it?, Hvordan er det! Schmeckt es?" Von Beginn an lernen die Wolffs fleißig dänisch. Heute geht ihnen das locker über die Zunge, auch etwas grönländisch ist dazu gekommen.

An sechs Tischen sitzen die Besucher im Gastraum, dessen weißes Gebälk Ingo Wolff immer zwingt, den Kopf einzuziehen. Feste Öffnungszeiten gibt es im "H 8" nicht, auch keine Speisekarte. Uta Wolff kocht die Menüs auf Anmeldung. Sie bereitet leckere Fischplatten zu - mit allem, was so um Grönland im Meer schwimmt. Auch Robbe gibt es. Das Fleisch sieht gebraten schwarz wie Kohle aus und schmeckt fast wie ein Hering, meinen manche Gäste. "Stimmt überhaupt nicht", behauptet die 54-jährige Uta Wolff, "eher wie Wildbret." Ihr Schmorbraten aus Robbenfleisch mit Pilzsoße beweise das!

Bei hundert Gästen und 25 Plätzen wird es schwierig, alle gleichzeitig zufrieden zu stellen. Deshalb gebe es manchmal drei Durchgänge, ganz "wie im FDGB-Ferienheim", schmunzelt Ingo Wolff. Reich können sie mit den Touristen nicht werden, aber "wir sind nicht hinterm Geld her". Langweilig werde ihnen hier nie. Dafür ernten sie oft ungläubige Blicke. Es gebe ja immer zu tun, in den kleinen Häuschen etwa, wo sie Zimmer vermieten.

Ende Oktober bis Anfang März ist das "H 8" geschlossen. Zwei Mal haben die beiden hier überwintert. Sie wissen, wie es ist, wenn die Sonne monatelang weg bleibt. "Es ist dann so still, so romantisch, so weiß - und ganz ohne Weihnachtsstress", schwärmt Uta Wolff. Aber meist fahren sie von Dezember bis Anfang Februar zur Familie oder machen Urlaub irgendwo in der Welt. Auch dieses Jahr wieder. Wohin es dieses Mal geht, ist noch offen.

In drei Monaten packen die Wolffs die Koffer für den Heimaturlaub. Irgendwann für immer? Alt könnten sie hier schon werden, ja, sinniert Uta Wolff, "wenn wir gesund bleiben". Doch daran denken sie momentan überhaupt nicht. Von Jahr zu Jahr entscheiden sie neu, ob sie in Grönland bleiben, "immer einstimmig". Für 2011 ist das Abstimmungsergebnis klar: Ja.