Amoklauf vor 100 Jahren Amoklauf vor 100 Jahren: Lehrer tötet fünf kleine Mädchen

Bremen/dpa - Bewaffnet mit mehreren Pistolen stürmt der 30-Jährige die St. Marien-Grundschule in Bremen. Wahllos feuert er auf die schreienden Mädchen. Ein Lehrer kann den Schützen schließlich überwältigen. Doch da sind schon einige Kinder tot. Eine Tragödie, die an die Amokläufe in Winnenden, Erfurt oder Emsdetten erinnert, jedoch viel älter ist. Sie ereignete sich bereits vor 100 Jahren - als es Computer-Ballerspiele noch gar nicht gab, die immer wieder für solche Gewaltexzesse verantwortlich gemacht werden.
Die Bluttat vom 20. Juni 1913 entsetzte damals die Menschen in ganz Deutschland. Heute ist die Geschichte selbst in Bremen kaum noch bekannt: Angesichts der Schrecken der beiden Weltkriege und des langen Wiederaufbaus geriet sie fast in Vergessenheit. Auch in den Archiven der Stadt ist wenig darüber zu erfahren. Nur noch einige alte Zeitungsartikel und fünf Seiten in einer Schulchronik zeugen davon.
„Es brach Panik aus“
100 Jahre später rückt die Geschichte allmählich wieder in das Bewusstsein der Menschen. Der Feuilletonist und Kunst-Experte Florian Illies erwähnt sie in seinem 2012 erschienenen Sachbuch „1913“. Auch in Bremen beschäftigen sich inzwischen mehr Menschen damit.
In seiner früheren Realschule in Winnenden bei Stuttgart und auf der Flucht erschießt ein 17-Jähriger 15 Menschen und sich selbst. Die Waffe hatte er seinem Vater entwendet, einem Sportschützen.
Mit Gewehren, Sprengfallen und Rauchbomben bewaffnet, überfällt ein 18-Jähriger in Emsdetten (Nordrhein-Westfalen) seine frühere Schule. Er schießt vier Schüler und den Hausmeister an, danach tötet er sich selbst. Mehr als 30 Menschen erleiden Rauchgasvergiftungen oder einen Schock.
Mit Pistole und Pumpgun erschießt ein ehemaliger Schüler eines Erfurter Gymnasiums 16 Menschen und sich selbst. Die meisten Opfer sind Lehrer. Der 19-Jährige war der Schule verwiesen worden und Mitglied eines Schützenvereins.
Einer davon ist Hermann Sandkühler. Als ehemaliger Chronist und Archivar der katholischen St. Marien-Gemeinde, zu der die Grundschule damals gehörte, hat er sich vor einigen Jahren auf Spurensuche begeben. Dabei stieß er auf drei alte Damen, die den Amoklauf als Schülerinnen miterlebt hatten. „Sie waren um die 90, konnten sich aber noch präzise an alles erinnern.“
Es ist kurz vor der großen Pause um elf Uhr, als Heinz Schmidt, ein arbeitsloser Lehrer, in die katholische Grundschule eindringt. Aus zwei Pistolen gleichzeitig feuert er auf alle Menschen, die ihm Treppenhaus begegnen: Kinder, Lehrer, den Hausmeister. „Es brach Panik aus“, erzählt Sandkühler. Die Schüler rennen durcheinander, einige verkriechen sich unter Schulbänken, springen oder klettern aus den Fenstern der Klassenräume.
Das Ganze dauert nicht einmal 20 Minuten, die aber sind verheerend: Vier Erstklässlerinnen verletzt der Attentäter tödlich. Eine bricht sich bei der Flucht das Genick. Dazu kommen fast 20 Verletzte. Vor Gericht wird sich Schmidt dafür nie verantworten müssen. Die Polizei bringt den für geisteskrank erklärten Mann noch am selben Tag in eine Psychiatrie, wo er 1932 an Tuberkulose stirbt.
„Er litt an Verfolgungswahn und war nicht zurechnungsfähig“, sagt Achim Tischer. Der Leiter des Krankenhausmuseums, das die Geschichte der Psychiatrie in Bremen dokumentiert, hat die Akte von Schmidt erst vor wenigen Wochen im Archiv entdeckt. Sie führt den Patienten unter dem Vornamen Hans und nicht unter Heinz Jacob Friedrich Ernst wie die Chroniken und alten Zeitungsartikel. Jahrzehntelang schlummerte die Krankengeschichte deshalb unbemerkt zwischen all den anderen. Der Geisteszustand des Attentäters gehe aus ihr deutlich hervor, sagt Tischer. „Heute würde man ihn als schizophren bezeichnen.“
Amokläufe sind kein Phänomen der Gegenwart
Dass es allein die Krankheit war, die Schmidt zu den Amoklauf trieb, bezweifelt Achim Saur jedoch. „Dieses Attentat steht im Zusammenhang mit Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten, die noch auf Bismarks Zeiten zurückgehen“, meint der Experte für Stadtgeschichte. Damals gab es im protestantisch geprägten Bremen ein kleines katholisches Viertel, zu der eine Kirche, ein Waisenhaus und eben die St. Marien-Grundschule gehörten. Schmidt, Sohn eines evangelischen Pastors, schrieb am Tag vor dem Attentat in einem Brief, er wolle die Katholiken - insbesondere die Jesuiten - mit allen Mitteln bekämpfen.
Ob religiöser Fanatismus, Wahnsinn oder beides zusammen - das wird sich heute nicht mehr klären lassen. Eins macht die Tat aber deutlich: Amokläufe sind kein Phänomen der Gegenwart. „Es hat häufig in der Geschichte sinnlose Bluttaten gegeben“, sagt Heinz-Gerd Hofschen, Leiter der Stadtgeschichte am Bremer Focke-Museum. „Das scheint eine Konstante menschlichen Verhaltens zu sein.“
An der St. Marien-Grundschule erinnert heute nichts mehr an das Verbrechen, im Unterricht ist es kein Thema. Auch an den 100. Jahrestag will die Schule nicht gedenken - um die Kinder nicht zu verängstigen, lässt die Schulleiterin über den katholischen Gemeindeverband ausrichten.

