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Alkoholismus Alkoholismus: Zurück von ganz unten

Von Bärbel Böttcher 24.02.2012, 17:47

Halle (Saale)/MZ. - Ich bin Reinhardt Hahn. Ich bin Alkoholiker." An dem Tag, an dem der heute 64-Jährige diesen Satz erstmals öffentlich ausspricht, ist er schon anderthalb Jahre trocken. Seit dem 14. Januar 1982 sind Bier und Schnaps für ihn tabu. Über seine Sucht hat der Mann einen Roman geschrieben - "Das letzte erste Glas". Daraus liest er an jenem Tag in einem Brandenburger Krankenhaus. Vor 500 Zuhörern. Es ist nicht die erste Lesung. Doch noch nie hatte er zugegeben, dass es in dem Buch um ihn selbst geht. "Ich wurde rot im Gesicht. Ich habe gebrannt am ganzen Körper. Aber ich habe es gesagt." Für ihn ein entscheidender Schritt. "Sich lediglich still einzugestehen Alkoholiker zu sein, hilft nicht, dauerhafte Abstinenz zu erreichen", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn, wie er seit seiner Eheschließung heißt, und spricht bis heute in Lesungen über sein erstes Leben, "das völlig verkehrt war".

1953 geht die Familie, zu der sechs Kinder gehören, in den Westen. 1959 lassen die Eltern sich scheiden. Der Vater zieht mit den drei Jüngsten, darunter der damals Zwölfjährige, zurück in den Osten. Kurze Zeit später stirbt der Vater. Doch da ist die Mauer bereits zu. Die Kinder können nicht wieder zur Mutter. "Wir waren politische Vollwaisen." Mit 15 versucht Reinhardt Hahn, in den Westen zu fliehen. Er wird erwischt. Kommt nach Kyritz in ein Kinderheim. In seiner Erinnerung eine bedrückende Zeit ohne Liebe und Geborgenheit. Dafür voller sozialer Stigmatisierung. "Wir mussten Kleidung tragen, die irgendjemand gespendet hatte." Seine Wäschenummer - die 21 - hat er noch heute im Kopf. Er beginnt in Brandenburg eine Lehre als Elektromonteur. Wechselt noch einmal. Geht nach Leuna und wird Chemiefacharbeiter.

Der junge Mann macht schnell Karriere. Als stellvertretender Schichtleiter hat er 13 Kollegen unter sich. Alle älter als er. Geborgenheit findet er zu diesem Zeitpunkt in der Partei. "Ich war ein Glühender", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn. Er absolviert die Parteischule, wird mit 26 Jahren Nomenklaturkader der Bezirksleitung Halle der SED. "Die Partei war für mich ein großer Ersatz, Mutter- und Vaterersatz." Doch er kann sich nicht gut anpassen, sagt, was er denkt, will sich von anderen nicht dominieren lassen und tritt zuweilen cholerisch auf. Das kommt nicht gut an. Als er 1976 bei einer Auseinandersetzung sein Parteibuch zerreißt, wird er von "Mutter und Vater" verstoßen. Er fliegt aus der Partei und verliert seine Stelle in Leuna. Reinhardt Hahn kann zu dieser Zeit sein Leben nur ertragen, wenn er sich selbst betäubt. Mit Alkohol. Bereits als Funktionär hat er nicht wenig getrunken. Bis zur Sucht ist es nun nur noch ein kurzer Weg.

Konflikt- und Erleichterungstrinken nennt der Psychiater dieses Verhalten. "Es gibt im Gehirn eines Menschen einen Funktionskreis, der als inneres Belohnungssystem bezeichnet werden kann", erklärt Bernd Langer, Chefarzt des AWO-Psychiatriezentrums in Halle. "Wenn uns etwas Gutes widerfährt, wird es aktiviert und schüttet körpereigene opiatähnliche Substanzen aus. Die wiederum versetzen uns in einen angenehmen Zustand." Auch Suchtstoffe wie Alkohol, so der Mediziner, würden dieses Belohnungssystem aktivieren. Der Mensch mache die Erfahrung, dass beispielsweise berufliche Anspannung nachlasse, wenn er am Abend drei, vier Bier trinke. "Und das führt bei manchen Menschen dazu, dass sie diesen Zustand immer wieder herbeiführen wollen und so süchtig werden."

Um den Zustand der Erleichterung zu spüren, braucht Reinhardt Hahn immer größere Mengen Alkohol. Erst Bier, dann Schnaps und Likör. Das höchste Quantum sind drei Flaschen Schnaps am Tag. Aber da ist er schon ganz am Ende. Zunächst hält der Mann sich mit Hilfsarbeiten über Wasser. Überall fliegt er nach kurzer Zeit raus. Er wechselt häufig Wohnungen und Wohnorte, zieht zu immer anderen Frauen, die ihn bemuttern. Zweimal heiratet er. Es entstehen vier Kinder. "Die Frauen haben geglaubt, dass sie die Kraft haben, mich mit Liebe zu ändern", sagt er. Aber das sei bei einem Alkoholiker vergeblich. "Meine Gedanken drehten sich nur um das eine: Wie komme ich an Geld, um neuen Stoff zu besorgen." Waschmaschine, Schleuder, Möbel - alles habe er verkauft. So stark sei der Saufdruck gewesen.

In klaren Momenten spürt Reinhardt Hahn, dass er sich auf einer sozialen Talfahrt befindet. Er will da raus. Beginnt sogar ein Literaturstudium in Leipzig, das er erst viel, viel später beenden wird. Und er versucht, das Trinken durch andere Suchtmittel abzulösen. Aber er findet immer wieder neue Ausreden dafür, dass er Trinken muss. Schuld sind der Staat, die Weiber, die miese Arbeit.

Reinhardt Hahn ist das, was der Volksmund einen Quartalssäufer nennt. Er kommt manchmal längere Zeit ohne Alkohol aus. In dieser Zeit redet er sich ein, gar kein Trinker zu sein. Es geht ja. Dabei sagt ihm sein vergifteter Körper längst etwas anderes. Der leidet. Ungefähr 35 Zusammenbrüche durch Alkoholvergiftung und Medikamentenmissbrauch zählt Reinhardt Hahn. Er hat mehrfach Halluzinationen, sieht Drachenköpfe in der Wand, jagt schleimige Vögel.

"Das sind klassische Entzugserscheinungen", sagt Bernd Langer. Die könnten schlimmstenfalls zu einer Bewusstseins-eintrübung führen. Die Psychiatrie spricht dann von einem Alkohol-Delir. "Das ist ein medizinischer Notfall, der ohne Behandlung oft tödlich verläuft", erklärt Langer.

Am Anfang des Jahres 1982 ist Reinhardt Hahn ganz unten angekommen. 14 Tage lang zecht er durch, belohnt sich dafür, dass er Silvester und Neujahr nicht zur Flasche gegriffen hatte. Durch eine glückliche Fügung kommt er in diesem Zustand zur Stadtmission in Halle. Es ist der 14. Januar 1982. "Ich war genau an dem Punkt, an dem ich mir sagte, entweder du stirbst jetzt oder du versuchst es ohne Alkohol. Ich habe gelitten." Noch an diesem Tag unterzeichnet er eine Erklärung, in der er sich vor dem lieben Gott, der anwesenden Diakonin und vor sich selbst verpflichtet, zunächst drei Monate keinen Alkohol zu trinken. "Der liebe Gott war mir egal, die Diakonin war mir egal - aber über den Reinhardt bin ich gestolpert", sagt er. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein sei die Frage aufgetaucht: Was tust du dir eigentlich an? Warum gehst du so kalt und lieblos mit dir um? Die drei Monate hält er durch. Daraus sind inzwischen 30 Jahre geworden. Das schaffen nur wenige.

Anfangs ist es nicht einfach. "Ein Alkoholiker muss die Abstinenz lernen", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn. "Der Suchtdruck ist so stark, so unmittelbar und so total." Die ersten drei bis fünf Jahre sei es wirklich wichtig, keine Kneipe zu gründen, in der Kaufhalle nicht dahin zu gehen, wo der Schnaps steht und auch zu Hause nicht einen Tropfen zu haben. "Das ist tödlich." Ihm helfen über Jahre die Treffen der Selbsthilfegruppe in der Stadtmission. Heute sind es die Lesungen. Allein im vergangenen Jahr waren es etwa 25.

"Ich habe mir die Abstinenz geschenkt", sagt Reinhardt Cornelius-Hahn. "Alkohol gehört nicht mehr zu meinem Leben." Das machen jetzt ganz andere Dinge aus: Er lebt seit vielen Jahren in einer glücklichen dritten Ehe, aus der 1984 eine Tochter hervorgegangen ist. Vor etwas mehr als fünf Jahren hat er seiner Frau eine Niere gespendet. Er leitet in Halle einen Buchverlag, trägt für knapp 30 Mitarbeiter die Verantwortung. Im März eröffnet er in Halle ein Buch- und Kunsthaus. "Heute bin ich süchtig nach Sinnerfüllung, nach Gestaltung", sagt er. Und räumt ein: "Ich habe Glück gehabt. Mir ist das Leben wiedergegeben worden - wie einem Baum, der verdorren wollte."