Zugunglück von Hordorf Zugunglück von Hordorf: Amalia ist zurück im Leben
Hordorf/MZ. - Amalia - das bedeutet so viel wie tapfer und tüchtig. Treffender kann kein Name sein - für diese Elfjährige. Amalia aus dem Vorharz-Dörfchen Harsleben bei Halberstadt ist wieder zurück im Leben - nach dem Zugunglück von Hordorf (Bördekreis) am 29. Januar vor einem Jahr.
In der Schreckensnacht verliert das Kind seine Mutter und seine zwei Jahre ältere Schwester. Auch der Stiefvater und dessen Mutter sterben in den Trümmern. Insgesamt finden zehn Menschen den Tod. Mit Ausnahme des aus Schwerin stammenden Zugführers kommen alle Toten aus dem Landkreis Harz. Amalia selbst erleidet - wie 22 weitere Fahrgäste - schwerste Verletzungen und schwebt lange Zeit in Lebensgefahr: Eine ganze Region bangt damals.
Heute ist auf den ersten Blick alles in Ordnung. Wer die Viertklässlerin in der Heinrich-Heine-Grundschule sucht, braucht eine Weile, um das blonde Mädchen in der quirligen Truppe zu entdecken. Wie alle anderen spielt das Kind in der Pause. Im Unterricht stellt sie sich den üblichen Aufgaben: Rechnen, Schreiben, Lesen. Das ist nach langem Klinik-Aufenthalt eine Riesenleistung aller Beteiligter. Amalias Vater Kevin Rose ist stolz auf seine Tochter. Ihm geht es nicht nur um gute Noten. Amalia soll wieder mitten drin im Leben sein, eine ganz normale Kindheit haben. "Gemeinsam schaffen wir das."
In Lebensgefahr
Schädelhirntrauma, Knochenbrüche und geschädigte innere Organe: Amalia ist gleich mehrfach verletzt, so die Diagnose kurz nach dem Unglück. Sie erwischt es besonders schlimm. Die Notärzte im Halberstädter Salvator-Krankenhaus müssen deshalb das Kind auf der Intensivstation in ein künstliches Koma versetzen. Tagelang wagt niemand eine Prognose. Im März spricht die Klinik von einer "sehr positiven Entwicklung". Es geht bergauf - endlich, keine Lebensgefahr mehr. Täglich treffen Briefe, Päckchen und Grüße ein.
Monate müssen aber noch vergehen, bis Amalia wieder laufen kann. "Das war doof", sagt das Kind danach im Rückblick. Im Mai, nach einer Kur im Brandenburgischen, liegt die Zeit im Rollstuhl und an Krücken endlich hinter ihr. Es ist ein Glückstag für die nächsten Angehörigen, die sie jeden Tag im Krankenhaus besucht haben. Gemeinsam statten sie dem Team der Station A 6 mit dem behandelnden Oberarzt Oliver Hauf einen Besuch ab. Im Sommer erlaubt dann eine Woche gemeinsamer Urlaub in der Hügellandschaft bei Prag, Abstand zu gewinnen und nach den Strapazen neue Kraft zu schöpfen.
Wenn man bedenkt, wie katastrophal der Zusammenprall der beiden Züge gewesen ist, kommt man jetzt nicht aus dem Staunen heraus: Amalia nimmt sogar wieder am Sportunterricht teil. Ihr Vater meint zwar, so ganz perfekt laufen könne sie noch nicht. Aber die chirurgischen Nägel seien aus dem Bein raus. Jetzt zeige es sich wieder: "Es ist ein Kind, das sich viel bewegen will."
Gesucht und gefunden
Amalia ist umgezogen, lebt jetzt im Haus bei ihrem Vater, dessen Lebensgefährtin Katharina und zwei jüngeren Geschwistern aus dieser Beziehung. Kevin Rose ist glücklich: "Das ist ein Trio, das sich gesucht und gefunden hat." Amalia hat ein eigenes, kleines Reich. Das Zimmer ist neu ausgebaut - alles Eigenleistungen.
Es gibt aber einen bitteren Beigeschmack: Auf die angekündigte Hilfe vom Land wartet Rose bislang vergeblich. Auch gesetzlich mögliche Entschädigungszahlungen stehen noch aus. Der Grund: Das Gerichtsverfahren, das die Schuld für das Unglück feststellen soll, steht noch am Anfang. Allerdings haben alle unmittelbar Betroffenen sowie Hinterbliebene aus dem Spendentopf des Landkreises schon etwas Geld bekommen. Es stammt aus dem Hilfsfonds des Landkreises, in den rund 380 000 Euro geflossen sind. 5 000 Euro werden für einen Gedenkstein an der Unglücksstelle bereitgestellt.
Für Amalia ist das alles aber weit weg. Ihr Zimmer daheim ist freundlich ausgestaltet - in ihren Lieblingsfarben Lila, Weiß und Pink - sowie mit Spielzeug, das vor allem eines beweist: Hier wohnt ein Kind, das Pferde über alles liebt. Natürlich gehört auch eine Schublade mit einigen kleinen Plüschtieren dazu - alles Geschenke. "Wir sind in der schweren Zeit dankbar gewesen für jede noch so kleine Zuwendung", sagt der Vater.
Manchmal greift Amalia auch schon wieder zur Querflöte. Es erinnert sie ein wenig an ihre Freunde vom Spielmannszug in Langenstein, ihrem vorherigen Wohnort. Nicht nur Fred Käsewieter, der erste Vorsitzende , würde sich über ein Wiedersehen sehr freuen. Doch auch in Harsleben gibt es einen Spielmannszug. Angemeldet ist Amalia dort aber nicht. Sie sei sich da noch unsicher, so ihr Vater. Man dürfe da nicht drängen. Erst müsse sie gesundheitlich voll und ganz wieder hergestellt sein.
Behutsamkeit ist auch angesagt, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Unglück und seinen Folgen geht. Auf Medienrummel sei die Familie ganz und gar nicht aus. Das störe und nerve nur. Auch aus diesem Grund wolle man nicht an den offiziellen Gedenkfeiern teilnehmen, die am Wochenende in Hordorf und in Halberstadt stattfinden. "Wir fahren hin, wenn der ganze offizielle Teil vorbei ist", so der Familienvater.
Inzwischen beschäftigt Rose noch eine ganz praktische Frage: Die Familie sucht nach einer neuen Bleibe innerhalb der Vorharz-Gemeinde, bislang erfolglos.
Eine seelische Last
"Zeit kann Schmerz lindern, und ein Jahr ist manchmal schon eine lange Zeit", meint Klaus Biada, Chef der Halberstädter Notfall-Seelsorge. Nach dem Eisenbahn-Unglück - "eine absolute Ausnahmesituation" - haben seine 15 Mitstreiter viel Beistand geleistet. Vergessen könne man nichts, doch die seelische Last nehme allmählich ab. Nach dem Gedenkgottesdienst am Wochenende im Halberstädter Dom, so seine Hoffnung, könne man das schwierige Hordorf-Kapitel vielleicht schließen.
Klinikchef Klaus Begall weiß, dass niemand das Unglück aus dem Gedächtnis streichen könne. Zur Erinnerung gehöre aber auch, wie gut Mediziner und alle Helfer ihre Aufgaben in der Katastrophennacht und auch danach erfüllt haben. Holger Thiel vom Cecilienstift in Halberstadt empfindet immer noch große Betroffenheit. "Die getötete Stief-Oma von Amalia war seit 2004 eine Mitarbeiterin unseres Hauses." Die Mitarbeiter der Einrichtung haben deshalb auch Geld gesammelt. Thiel: "Es ist jetzt gut angelegt und kann später Amalias Ausbildung unterstützen."