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Wer steckt hinter "Renate Bergmann"?  Wer steckt hinter "Renate Bergmann"? : Deutschlands bekannteste Twitter-Oma ist ein Sachsen-Anhalter

Von Michael Blochwitz 04.10.2014, 08:44
Torsten Rohde schreibt Twitteratur: Seine Kurznachrichten als Oma Renate Bergmann haben Kultstatus.
Torsten Rohde schreibt Twitteratur: Seine Kurznachrichten als Oma Renate Bergmann haben Kultstatus. Michael Blochwitz Lizenz

Halle (Saale) - In einem Café einer verkehrsberuhigten Kleinstadt im Nordosten von Sachsen-Anhalt warte ich auf Renate Bergmann. Die 82-jährige Internet-Aktivistin aus Genthin im Jerichower Land ist mit ihrem Erstlingswerk „Ich bin nicht süß, ich habe nur Zucker“ gerade zur ältesten Bestseller-Autorin der Republik avanciert. In dem Taschenbuch findet sich, verknüpft durch lose Geschichten, eine Auswahl ihrer bei Twitter veröffentlichten Kurznachrichten. In heiterer und schrulliger Manier erzählt sie von Arztbesuchen, Beerdigungen oder Supermarkt-Erlebnissen. „Ich habe nicht den Krieg überlebt, um Kunstfleisch aus Soja zu essen“, lautet einer der Tweets.

Kontaktiert zunächst per Facebook, antwortet sie kurz darauf: „War gerade joggen und konnte unterwegs nicht tippen.“ Im anschließenden Chat erzählt sie, wie ihr Leben als „Twitter-Omi“ begann: Eines Tages schenkte der Neffe ihr ein Handy. „Es hatte keine Wählscheibe und keine Tasten. Vorn war eine Glasscheibe und hinten eine angebissene Tomate.“ Könnte aber auch ein Apfel sein. „Sie glauben es nicht; man kann mit dem Apparat fotografieren, einkaufen, Nachrichten schreiben, Briefe schicken und lesen und Vögel mit einer Steinschleuder abschießen. Es macht auch Musik und hilft einem, den Weg zu finden.“

Mit Hilfe des Neffen hat Oma Bergmann ihr neues Handy eingerichtet: „Fäßbuck, eBay und eine Apotheken-App.“ Am meisten Freude bereitet der agilen Witwe aber Twitter. „Ich habe mich da mit dem Tomatentelefon angemeldet, damit die Leute sehen, wie ich im Internetz so bin.“ In maximal 140 Zeichen berichtet Renate Bergmann seither aus ihrem Alltag als Seniorin. Über 23 000 Twitter-Nutzer verfolgen ihre Kurznachrichten. „Weiß gar nicht, wie das passieren konnte“, wundert sie sich.

Technisch sei das „ein bisschen kompliziert“, und es gebe immer mal wieder Probleme, schreibt Oma Bergmann. „Aber wenn man 82 Jahre alt ist, geht nicht immer alles glatt“, so die Internet-Seniorin. „Ich habe die Mauer, vier Ehemänner und 217 Folgen ,Denver Clan’ überlebt, und nun regiert eine FDJ-Sekretärin Deutschland – es kommt nicht immer alles, wie man es erwartet.“ Seitdem sie so viel Zeit im Internet verbringe, bereite sie mittags manchmal nur eine Tütensuppe. „Ich schaffe es einfach nicht mehr zu kochen.“

Warum Renate Bergmann eigentlich ein Mann ist, lesen Sie auf Seite 2.

Für ein weiterführendes persönliches Gespräch hat sie das Café in der Innenstadt vorgeschlagen. Da sitze sie gerne mit ihren Freundinnen, jedenfalls mit denen, die noch leben. Falls sie zu spät kommen sollte, denn der Bus sei leider selten pünktlich, könne „der Herr schon mal ein Eclair bestellen“.

Plötzlich kommt ein Mann an den Tisch, fragt, ob er sich setzen dürfe und nimmt, ohne eine Antwort abzuwarten, Platz. „Ich bin Renate Bergmann“, sagt er grinsend. Die Verwirrung seines Gegenübers scheint er zu genießen. Er stellt sich als Torsten Rohde vor und erzählt, wie die Idee, als Renate Bergmann zu twittern, bei einem Familientreffen entstanden ist. Er habe „so typische Oma-Sprüche“ wie „Setz dich nicht auf den kalten Boden, davon bekommt man Hämorrhoiden“ humorvoll verarbeiten wollen. Am nächsten Morgen hatte er bereits über 300 Follower. „Bei meinem eigenen Account benötigte ich dafür Monate“, so Rohde. Also postet er als Renate Bergmann weiter: „Ilse und ich fahren manchmal aufs Dorf raus und machen mit dem Rollator Kornkreise ins Feld.“

Großmutter von Sarah Kuttner?

Schnell wächst im Netz die Schar der Anhängerschaft. Die Medien werden auf die Twitter-Oma aufmerksam, die bekannte Moderatorin Sarah Kuttner behauptet, Renate Bergmann sei ihre Großmutter. Plötzlich ist um die Internet-Omi so ein Hype entstanden, dass das gerade erschienene Buch in den Bestseller-Listen landet.

Bei Facebook haben bisher über 7 500 User „Gefällt mir“ geklickt. Am liebsten postet Renate Bergmann dort Eierlikör-Rezepte oder berichtet aus ihrem Alltag: „Gestern Tanztee, heute Beerdigung. Die Musik ist anders, aber der Kuchen ist vom selben Bäcker.“

Öffentliche Lesungen folgen und Fernsehauftritte müssen absolviert werden. Seinen seriösen Broterwerb als Buchhalter hat der 40-Jährige mittlerweile aufgegeben. Seither ist der leidenschaftliche Jogger, sozusagen hauptberuflich, als Oma Bergmann unterwegs. Der zweite Teil des bisher in fünfter Auflage erschienenen Werkes ist bereits in Planung. Aktuell bereitet Torsten Rohde die Kandidatur seiner Kunstfigur als Bürgermeisterin von Berlin vor. Nachdem Klaus Wowereit seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde „Rente“, wie er seine digitale Großmutter liebevoll nennt, auf Twitter von zahlreichen Fans aufgefordert, für das Amt zu kandidieren. Dass ihm die Ideen ausgehen, fürchte er jedenfalls nicht. Und wenn doch: „Ich habe noch andere heimliche Accounts bei Twitter“, verrät Rohde schmunzelnd.

Was sich hinter dem Trend Twitteratur verbirgt, lesen Sie auf Seite 3.

Mit seiner Twitter-Oma hat Rohde einen Trend mitgestaltet. Ausgehend von einem gefälschten Account der britischen Queen ist eine neue Form der Literatur entstanden, von Experten Twitteratur genannt. Gerade erschien zum Beispiel das Buch eines „Fenster-Rentners“, dahinter verbirgt sich ein junger Mann aus dem Ruhrpott.

Ähnlich wie bei Aphorismen werden auch in der Twitteratur Weisheiten und Denkwürdigkeiten in kurzer, verdichteter Form verfasst, erweiternd aber auch flache Sinnsprüche oder aufgebauschte Belanglosigkeiten formuliert. Ein Tweet ist - wie der Aphorismus - nicht der Realität verpflichtet, sollte im besten Fall aber „die Wahrheit überflügeln“, wie Karl Kraus, der König der Aphorismen, einst formulierte. Oder wie Torsten Rohde neulich twitterte: „Man sollte der Phantasie viel öfter freien Raum lassen. Oft führt sie zur Wahrheit.“ Ob zur Lage der Welt, zusammengefasst in einem Satz, oder im dadaistischen Duktus - Torsten Rohde hat sein Alter Ego mit einem kauzig-bissigen Humor ausgestattet. Man könnte auch meinen, Renate Bergmann regt sich gern mal auf. „Hier wird schon die dritte Trauerrede gehalten und wir hatten noch keinen Korn. Die protestantischen Beerdigungen gefallen mir nicht.“

„Ich wünsche mir, im Alter so zu sein wie Renate Bergmann“

„Ich wünsche mir, im Alter so zu sein wie Renate Bergmann“, sagt der Autor. Trotz diverser Zipperlein trotze sie dem Unbill des Alltags. „Dass da auch viel Einsamkeit und Schmerz sein kann, ist mir natürlich bewusst.“ Er wollte jedoch eine heitere und wehrhafte Figur kreieren. Wobei ihm vor allem wichtig sei, sich „nie lächerlich“ oder abfällig über ältere Menschen zu äußern. Seine leibhaftige Großmutter ist auch „mächtig stolz“ auf den Enkel. „Immer wenn sie mit ihrem Rollator durchs Dorf fährt, hat sie ein Exemplar des Buches dabei.“

Dichtung? Wahrheit? Wie ausgeprägt Torsten Rohde mit seiner Twitter-Oma verwoben ist, zeigt sich, wenn der Mann in den besten Jahren plötzlich wie seine interaktive Großmutter klingt: Leidenschaftlich ereifert er sich, wie schwer es heutzutage sei, überhaupt einen ganz normalen, einfachen Filterkaffee serviert zu bekommen. Überall nur diese aufgeschäumten Ungeheuer in immer verrückteren Geschmacksrichtungen. Wieder ganz bei sich, bestellt Torsten Rohde dann aber lässig einen Latte Macchiato. Als wir von der Bedienung im Café die Rechnung verlangen, bleibt er gelassen; Oma Bergmann hätte aber gewiss gemeckert: „3,80 Euro für ein Glas Sprudel! Da bleiben wir aber noch ne Stunde sitzen.“

Am Abend, im Postfach, eine Nachricht: „Achtung! Da ist so ein Schnösel, der behauptet, ich zu sein. Dieser Hochstapler nennt sich Torsten Rohde und will meine Bekanntheit ausnützen. Beste Grüße Renate Bergmann.“ (mz)

Direkt zum Twitterkanal von Renate Bergmann: www.twitter.com/RenateBergmann

Renate Bergmann lebt in seinem Kopf - und ist für tausende Follower auf Twitter und Facebook lebendig.
Renate Bergmann lebt in seinem Kopf - und ist für tausende Follower auf Twitter und Facebook lebendig.
M. Ganske-Zapf Lizenz