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Wenn Betreuung zum Albtraum wird Wenn Betreuung zum Albtraum wird: Ohnmächtig im Pflege-Kosmos

Von Antonie Städter 05.01.2020, 11:00
Heidrun Lange mit ihrem Buch „Albtraum Betreuung“, in dem sie schildert, was sie bei der Pflege ihrer Eltern erlebt hat.
Heidrun Lange mit ihrem Buch „Albtraum Betreuung“, in dem sie schildert, was sie bei der Pflege ihrer Eltern erlebt hat. Andreas Stedtler

Heidrun Lange ist es gewohnt, die Geschichten von Menschen aufzuschreiben, auch von Schicksalen zu berichten. Sie hat lange Zeit als Lokalredakteurin bei einer Zeitung gearbeitet, ist seit 25 Jahren freiberufliche Journalistin. Doch dass sie einmal über ihre eigene Geschichte öffentlich berichten würde, das hätte sie noch vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten.

Damals hat sie aber auch nicht damit gerechnet, dass ihr einmal widerfahren könnte, was ihr widerfahren ist. Hinter ihr liegen Jahre des Kampfes, der Enttäuschung und Verzweiflung. Ein Albtraum, wie es die aus einem kleinen Ort im Burgenlandkreis stammende Frau, die mit ihrer Familie in Brandenburg nahe Berlin lebt, selbst nennt. Jahre, in denen sie als Tochter gelitten, an denen sie noch heute zu knabbern hat.

Bruder beantragt gesetzlichen Betreuer für Eltern 

Was war passiert? Es ist gut sechs Jahre her, da standen Heidrun Lange und ihre Familie vor einer schweren Entscheidung. Der Gesundheitszustand ihres Vaters, damals schon über 90 Jahre alt, hatte sich mehr und mehr verschlechtert, die Mutter erkrankte an Demenz. „Uns wurde klar, dass sie sich nicht mehr so um ihn kümmern konnte, wie es trotz des täglich erscheinenden Pflegedienstes und unserer Hilfe nötig gewesen wäre“, erzählt die 65-Jährige. 

Nach einem Krankenhausaufenthalt des Vaters bringen sie das Ehepaar in einem Seniorenheim unter. Ein Schritt, der ihr sehr schwer fiel: „Ich hatte ihnen versprochen, dass sie nicht ins Heim kommen“, erinnert sie sich, „aber wir wollten sie ja auch wieder nach Hause holen, sobald es ihm besser gehen würde, hatten nur Kurzzeitpflege beantragt.“ Es sollte ganz anders kommen.

In ihrem Tagebuch hält Heidrun Lange damals die Ankunft des schwachen Vaters im Heim fest: „Er kniff die Augenlider zusammen. Mit den Händen schirmte er den grellen Lichtstrahl ab, der direkt von einer Deckenlampe in sein Gesicht strahlte. Er (...) fragte: ,Wo ist meine Couch?’ Bedrückt sah ich zu. Im Krankenhaus hatten wir über das Heim gesprochen, aber nun schien mein Vater trotzdem irritiert darüber, dass man ihn nicht in seine Wohnung gebracht hatte.“

Streit unter Geschwistern wegen Pflege der Eltern

In dieser Zeit kam es zwischen Heidrun Lange und ihrem Bruder zum Streit wegen der Pflege der Eltern und der Finanzen, erzählt sie. Zwischen den Geschwistern habe es schon zuvor hin und wieder Probleme gegeben, berichtet Heidrun Lange. Nun beantragte der Bruder beim Amtsgericht einen gesetzlichen Betreuer für die Eltern. „Somit setzte sich die Betreuungsmaschine in Gang“, sagt die Journalistin, die ihre Erfahrungen in dem kürzlich erschienenen Buch „Albtraum Betreuung“ aufgeschrieben hat.

Im Ernstfall sind die Vorsorgevollmacht und die Betreuungsverfügung wichtige Dokumente. Mit der Vorsorgevollmacht können eine oder mehrere Personen ausgewählt werden, die für den Verfasser handeln. 

Der Umfang der Vollmacht kann im Detail festgelegt werden. Eine gesetzliche Betreuung kann so ausgeschlossen werden. Mit der Betreuungsverfügung legt man indes fest, wer im Vorsorgefall Betreuer werden soll. Dieser unterliegt der Kontrolle durch das Gericht. Liegen diese Dokumente nicht vor, bestellt das Gericht einen Betreuer.

Experten empfehlen allen Personen ab 18 Jahren, eine Vorsorgevollmacht anzufertigen. Denn mit der Volljährigkeit erlischt das Bestimmungsrecht der Eltern. Was viele nicht wissen: Selbst Eheleute können nicht automatisch für den anderen entscheiden. Auch hier ist die Erteilung einer Vollmacht erforderlich. „Im Betreuungsrecht ist der Schutz der Familie außer Kraft gesetzt“, warnt Professor Volker Thieler, der sich als Anwalt auf Betreuungsrecht spezialisiert hat, in Heidrun Langes Buch „Albtraum Betreuung“. „Der Richter muss die Angehörigen nicht fragen, welche Entscheidungen er vorhat, zu treffen.“ Und: „Diese haben kein Mitspracherecht, wenn sie nicht vorher versucht haben, dem Verfahren beizutreten.“

Ein Gutachter schätzte die Gesundheit des Vaters ein, es folgte die Anhörung durch die Amtsrichterin - mit dem Vater allein. Das Gespräch habe 20 Minuten gedauert. „Ohne zu ahnen, was das bedeutet, stimmte er einer Betreuung zu“, berichtet die Tochter. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass damit eine fremde Person über seine Unterbringung, über Gesundheitsmaßnahmen und seine Geldangelegenheiten entscheidet.

„Dann wäre er damit auf keinen Fall einverstanden gewesen“, ist sie überzeugt, „aber er dachte, da geht jemand mit ihm spazieren und unterhält sich mit ihm.“ Die Richterin setzte erst für den Vater, später auch für die Mutter einen gesetzlichen Betreuer ein.

Zweifelhafte Entscheidungen: Konflikt mit dem eingesetzten Betreuer

Dies geschieht nach dem Gesetz immer dann, wenn der Betreffende, der vorübergehend oder dauerhaft handlungsunfähig ist, keine Vorsorgevollmacht oder Betreuungsverfügung erteilt hat, in der er bestimmt, welche Vertrauensperson seine Interessen im Fall des Falles wahrnehmen soll (siehe „Alles rechtzeitig regeln“). Ein solcher gesetzlicher Betreuer wird also befugt, Entscheidungen anstelle des Betreffenden zu fällen.

Noch heute macht Heidrun Lange der Gedanke zu schaffen, ob sie bei ihren Eltern nicht vehementer hätte darauf drängen sollen, dass sie diese Dokumente anfertigen. Denn: Immer wieder kam es zum Konflikt mit dem eingesetzten Betreuer, der zweifelhafte Entscheidungen traf, wie sie erzählt. „Zum Beispiel bestellte er die Physiotherapie meines Vaters ab - das sei zu teuer“, sagt sie. Und: „Oft wurden wir über Entscheidungen gar nicht erst informiert.“ Beschwerden beim Amtsgericht seien ignoriert worden.

„Die Richter haben oft gar nicht die Zeit zu prüfen, was im Detail die eingesetzten Betreuer tun“, sagt Heidrun Lange. Machte sie im Heim auf Missstände aufmerksam, wurde sie abgewiesen, berichtet sie. Ihr waren die Hände gebunden, „ich durfte keine Entscheidung für meine Eltern treffen - immer wurde auf den Betreuer verwiesen“. Und, für die Tochter unerträglich mit anzusehen: „Meine Eltern wurden nicht ernst genommen, entmündigt.“

Zum Beispiel, als beide für Monate getrennt wurden. Es bricht Heidrun Lange noch heute das Herz, wenn sie davon erzählt. Dem Vater war vorgeworfen worden, seine Frau geschlagen zu haben. Doch die Polizei, die der Heimleiter gerufen hatte, habe diesen Vorwurf entkräftet, berichtet Heidrun Lange, die selbst nie daran geglaubt hatte. Dennoch habe das Heim das seit über 60 Jahren verheiratete Paar getrennt. „Besuche oder gemeinsame Ausflüge wurden untersagt“, so die Tochter. „Es tat mir jedes Mal sehr weh, wenn ich zusehen musste, wie sie sich gegenseitig suchten.“

In ihrem Tagebuch schrieb sie damals über ein Gespräch mit dem Heimleiter: „Auf meine erneute Bitte zu gestatten, dass die Eltern sich im Heim sehen dürfen, erwiderte er gereizt, dass es mich nichts anginge, wie er meine Eltern unterbringe.“ In der Akteneinsicht las sie später, dass der gesetzliche Betreuer der Richterin mitgeteilt habe, dass die Eltern sich jeden Tag sehen - „das hat sie ihm geglaubt, aber es war eine Lüge“.

Ihre Eltern hatten nicht vorgesorgt. „Sie hatten keine Vorsorgevollmacht und auch keine Betreuungsverfügung ausgefüllt“, sagt Heidrun Lange. Dabei hatten die Tochter und ihr Mann ihnen lange vor den Geschehnissen die Vordrucke dafür gegeben. Man werde in der Familie klären, was mit ihnen im Alter passiert, habe der Vater damals gesagt. „Mit juristischem Kram hatte er nichts am Hut. Für ihn war mit dem Vertrag für das Begräbnis alles geregelt.“ Bis heute beschäftigt sie der Gedanke, dass mit Vorsorge sicher alles anders gekommen wäre. „Es ist ein sensibles Thema. Auch mir ist es schwergefallen, das bei meinen Eltern anzusprechen. Aber hätten sie die Unterlagen ausgefüllt, wäre all das nicht passiert.“

Ihre Geschichte aufzuschreiben, sei nicht einfach gewesen, sagt Heidrun Lange. Doch einerseits konnte sie damit das Geschehene, von dem bei ihr zu Hause mehrere gefüllte Aktenordner zeugen, ein Stück weit verarbeiten: „Es half mir, meine Trauer zu bewältigen.“

„Hunderttausenden geht es ähnlich“

Zum Anderen möchte sie auf das wichtige Thema Vorsorge und Betreuung aufmerksam machen - erreichen, dass sich die Menschen frühzeitig damit auseinandersetzen. Sie will aufklären. „Es ist mir nicht leicht gefallen, private Gefühle in die Öffentlichkeit zu tragen. Aber ich weiß, ich teile diese Gefühle mit Hunderttausenden von Menschen, denen es ganz ähnlich geht“, sagt sie. „Viele können sich gar nicht vorstellen, wie schnell es gehen kann, dass ein externer Betreuer vom Gericht bestellt wird - mir ging es genauso.“ Ihrem Buch ist die Profession der Autorin anzumerken: Ihm gingen jahrelange Recherchen voraus, die Journalistin hat ihre Erfahrungen mit zahlreichen Ratschlägen von Experten und mit anderen Fällen ergänzt.

Ihre Eltern übrigens konnten am Ende ihres Lebens nach dem Kampf der Tochter noch zwei glückliche Monate miteinander verbringen - in einem neuen Heim, mit neuer Betreuung. Vor vier Jahren starben sie dann kurz hintereinander.

››Heidrun Lange: Albtraum Betreuung. Was passieren kann, wenn Sie zum Betreuungsfall werden, LangenMüller Verlag, 208 Seiten, 18 Euro