Die verdrängte Seuche Verdrängte Seuche: Wie die DDR vor 50 Jahren die Hongkong-Grippe vertuschte

Halle (Saale) - Es ist nichts hängengeblieben in der Erinnerung. „Wir waren damals jung und Krankheit war kein Thema für uns“, beschreibt Martha Lehmann, die heute 77 Jahre alt ist. Als die Hongkong-Grippe vor einem halben Jahrhundert nach Halle kam, nahm die gebürtige Hallenserin, gerade Mutter geworden, davon gar keine Notiz. „Wir hatten alle andere Sorgen“, bestätigt Herbert Röhmer, damals 19 und gerade mit der Lehre fertig geworden. Dunkel könne er sich erinnern, dass die Hongkong-Grippe ein Thema gewesen sei. „Es sind mehr Menschen als sonst erkältet gewesen.“ Aber als bedrohlich habe er die Situation nie empfunden. „Das Leben ging ganz normal weiter.“
Dabei war auch die von der Welt einigermaßen abgeschirmte Arbeiter- und Bauernrepublik ab Mitte 1969 in eine Viruswelle geraten, die im Sommer des Jahres zuvor im chinesischen Hongkong ausgelöst worden war. Im Stadtstaat, damals noch unter britischer Verwaltung, erkrankten zuerst Menschen nach einer Infektion mit dem Erreger A/H3N2, der von Hühnern auf den Menschen übergesprungen war. Zuvor hatten sich Viren, die die Geflügelpest auslösen, mit Influenzaviren vermischt und eine neue, tödliche Kombination ergeben.
Hongkong-Grippe kam spät in die abgeschottete DDR
Ob das Virus aus der Gruppe der Influenzaviren Typ A zuvor bereits in der Volksrepublik China gewütet hatte, ist bis heute unklar. Das streng abgeschottete kommunistische Riesenreich steckte zu dieser Zeit gerade in der von Revolutionsführer Mao Zedong verordneten Kulturrevolution, während der Rote Garden, Parteigerichte und das Militär Millionen Menschen ermordeten, während weitere Millionen an Hunger oder Seuchen starben.
China ist damals weit weg. Die DDR hatte bereits 1963 nach einem Eklat auf einem SED-Parteitag um die Gastrede eines chinesischen Genossen so gut wie alle Beziehungen zum Reich der Mitte auf Eis gelegt. Auswärtigen Tourismus in die DDR gab es kaum, DDR-Bürger ihrerseits durften das Land so gut wie nicht verlassen.
Während die Epidemie sich durch Südafrika, Australien und Uruguay nach Spanien, Frankreich und in die Bundesrepublik vorarbeitet und überall der Grippe-Notstand ausgerufen wird, bleibt das sozialistische Deutschland lange eine Insel der Kerngesunden.
Hongkong-Grippe erreichte die DDR - Medien sprachen von Erkältungen
Bis dann trotz aller fast perfekten Kontaktsperren auch in der DDR die ersten Fälle der neuen Krankheit auftreten. In kurzen Meldungen berichten die DDR-Medien über vermehrte „Erkältungen“, die anhand von Symptomen wie schwerem Fieber höher als 39 Grad, trockenem Husten sowie heftigen Kopf-, Muskel- und Gliederschmerzen diagnostiziert würden.
Ärzte in den Polikliniken, Betriebsmediziner und Hausärzte schicken Patienten nach Hause und ins Bett, ohne dass eine Quarantäne verhängt wird. Behandelt werden die Symptome, um den Kranken Erleichterung zu verschaffen.
Ein Heilmittel gegen die Seuche, die in der damaligen Bundesrepublik am Ende mehr als 40.000 Tote fordern wird, gibt es nicht. Auch ein wirkungsvoller Impfstoff zur vorbeugenden Immunisierung ist nicht vorhanden oder auch nur in Sicht.
Hongkong-Grippe wütete: Aufregung nur im Westen
Die bundesdeutsche Gesellschaft reagiert darauf mit einiger Aufregung. „Tonnenmänner müssen Gräber graben“, meldete die „Augsburger Allgemeine“, als Ende 1968 so viele Augsburger sterben, dass Müllfahrer zum Schachten auf dem Friedhof eingesetzt werden müssen.
Prominente beeilen sich, ihren Kampf mit dem Virus in bunten Blättern zu schildern: Der Schlagersänger Udo Jürgens berichtet, wie er in zehn Tagen Virenschlacht zwei Kilo abgenommen hat. Und die Schauspielerin Uschi Glas erzählt nach ihrer Genesung, dass sie allein im Bett gelegen und das als „echte Erholung“ empfunden habe.
Doch tatsächlich greift die Grippe den Kern der Gesellschaft an. Notdienste sind überlastet, Ärzte schicken verzweifelte Patienten mit dem Hinweis fort, sie sollten es mit Wadenwickeln versuchen. Die Politik liefert Durchhalteparolen: „Ein guter Sozi ist gegen Viren aus dem Fernen Osten gefeit“, verkündet der bayerische SPD-Chef, und „das beste Mittel dagegen ist viel Arbeit“, befindet sein Genosse Hans-Jochen Vogel.
DDR-Medien sahen Hongkong-Grippe nur im Westen
Die Weltgesundheitsorganisation versichert, die Hongkong-Grippe verlaufe „durchweg mild und klinge rasch ab“. Gefährdet seien allenfalls durch Altersschwäche, Asthma oder Bronchitis, Herz- und Kreislaufleiden oder Diabetes vorbelastete Bürger. Und, so zumindest ist es den Medien in der DDR zu entnehmen, Einwohner kapitalistischer Staaten.
Die staatliche Nachrichtenagentur ADN berichtet regelmäßig über die „Grippewelle in Großbritannien und Belgien“, die 30 Prozent der Beschäftigten von der Arbeit abhalte. Verkehrsbetriebe hätten den Dienst einschränken müssen, in Dänemark seien die meisten Theater geschlossen worden und die USA zählten inzwischen mehr als 1.600 Grippetote.
Ruhig dagegen scheint die Lage im eigenen Land. Zwar vermeldet das Ministerium für Gesundheitswesen ein „Ansteigen der fieberhaften Erkrankungen der Atmungsorgane“ und „häufigere Virusgrippeerkrankungen, die durch Erreger vom Typ Hongkong hervorgerufen wurden“. Doch das sind kleine Meldungen, versteckt auf hinteren Zeitungsseiten. Zahlen werden auch aus den als „besonders betroffen“ eingeschätzten Bezirken Erfurt, Suhl und Halle nie genannt.
DDR war auf Epidemie nicht vorbereitet
Stattdessen fordern die Behörden dazu auf, „dass jeder Bürger durch hygienisches und ärztlichen Empfehlungen entsprechendes Verhalten die Ansteckungsgefahr vermindern“ müsse. Hände seien regelmäßig zu waschen, jeder müsse sich „witterungsgerecht“ kleiden, durch Spaziergänge im Freien solle man sich abhärten und „durch vitaminreiche Ernährung sowie ausreichenden Schlaf die Abwehrkraft des Organismus“ erhöhen.
„Da die Übertragung der Virusgrippe auf dem Wege der Tröpfcheninfektion und durch von Kranken infizierte Gegenstände erfolgt“, warnt die hallesche Bezirksepidemologin Ursula Bender, seien der Kontakt zu Kranken, das Händereichen und unnötige Zusammenkünfte zu vermeiden. „Und bei Auftreten von Krankheitserscheinungen sollte der Arzt aufgesucht werden.“
Denn vorbereitet auf eine echte Epidemie ist die DDR nicht, das wissen die zuständigen Organe bereits seit 1965. Damals hatte es auf einem Flug der staatlichen Airline „Interflug“ einen Verdacht auf eine Pockeninfektion gegeben. Die mutmaßlich infizierte Frau wurde isoliert, Passagiere und Besatzung kamen in Quarantäne. Später stellte sich alles als falscher Alarm heraus.
Zahl der Toten an Hongkong-Grippe in der DDR ist unbekannt
Doch als das Ministerium für Staatssicherheit den Vorfall untersuchte, stellt sich heraus: Wären es wirklich Pocken gewesen, hätte es dem DDR-Gesundheitswesen an allem gefehlt, um einen Ausbruch einzudämmen, von Isoliermöglichkeiten am Flughäfen bis zu einem Krankenhaus für Seuchenfälle.
Das wird anschließend zwar geplant, aber nie gebaut. Immerhin werden administrativ Konsequenzen aus der Hongkong-Grippe gezogen, die in der DDR eine bis heute unbekannte Zahl an Menschenleben forderte, die wohl in die Tausende gehen dürfte, wie die Sterbetafeln der DDR in den Grippe-Jahren vermuten lassen.
Mit einem „Führungsdokument zur Grippebekämpfung“ beschließt die DDR-Regierung nach 1970 einen Pandemieplan, wie ihn die WHO erst 1999 empfehlen und die Bundesrepublik sogar erst 2005 als Nationalen Pandemieplan verabschieden wird. (mz)