Turnen Turnen: Sprung in die Ewigkeit
HALLE/MZ. - Die Aufforderung des Fotografen sorgt für Erheiterung. "Mach mir den Fahrig", schallt es durch die Trainingsstätte der halleschen Turner. Und Matthias Fahrig macht es. Mit dem ungeübten Auge ist kaum zu erkennen, was genau der Turner da in der Luft veranstaltet, wie er im Bruchteil einer Sekunde durch die Luft wirbelt. Doch auch ohne zu wissen, wie viele Längs- und Breitenachsen-Drehungen das gerade waren, ist allen sofort klar: Das muss wohl eines der schwierigsten Elemente sein, an denen sich derzeit die Turner am Boden versuchen.
Nicht nur das. Der Hallenser ist sogar der einzige in der Welt, der dieses Übungsteil beherrscht. Und er hat es selbst erfunden. Deshalb trägt es seinen Namen. Der Weltverband FIG hat ihm jetzt darauf Brief und Siegel gegeben. Seit der Premiere beim Japan-Cup vor drei Wochen ist der "Fahrig-Salto" oder einfach "Fahrig" von dem Verband offiziell anerkannt und der höchsten Schwierigkeitsstufe G zugeordnet worden. Zum Verständnis: Am Boden gibt es derzeit überhaupt nur drei G-Teile.
Was aber genau zaubert Fahrig während seiner Bodenübung auf die Matte? "Ich springe nach einem Rückwärts-Überschlag rückwärts ab, mache dabei eine halbe Drehung. Daran schließt sich ein Doppelsalto mit gestreckten Beinen an, und dann kommen noch einmal anderthalb Längsdrehungen." Die Erklärung des 24-Jährigen klingt simpel. In der Fachsprache heißt das "Doppel-Twist gebückt mit anderthalb Schrauben". Die Schwierigkeit dabei ist, aus der Breitenachsen-Drehung so viel Schwung und Höhe mitzubringen, dass es noch für die Längsdrehungen reicht.
Perfektioniert in Japan
Der "Fahrig" ist schon jetzt eine Erfolgsgeschichte. Wenn auch eine, bei deren Geburt der Zufall Pate steht. Eigentlich hat Matthias Fahrig gar nicht vor, sich in der Turnerwelt unsterblich zu machen. "Ganz früher wollte ich unbedingt mal ein Element erfinden, das nach mir benannt wird", sagt er. "Später hat das für mich keine Rolle mehr gespielt." Bis vor einem halben Jahr, als er die Verbindung der Drehungen in die Schaumgummigrube testet. "Mehr aus Spaß, nur um zu sehen, ob das überhaupt geht."
Es geht. Hin und wieder testet er das Element im Training. Doch er muss erst nach Japan reisen, um es perfektionieren zu können. Bei einem zweiwöchigen Trainingscamp kommen dem SV-Athleten die erstklassigen Bedingungen entgegen. Der Boden ist hervorragend präpariert, viel besser als zu Hause in Halle. Das klingt ebenfalls lapidar, ist aber entscheidend.
Es geht nicht um irgendeinen Fußboden, sondern um einen High-Tech-Untergrund, auf dem die Athleten turnen. Bei einem älteren Gerät wäre das Risiko für den "Fahrig" viel zu groß. Für Sportler und Material. "Während der Vorbereitung in der Sportschule Kienbaum habe ich mich nicht nur einmal so kraftvoll abgedrückt, dass die Bodenplatten zerbrochen sind", erzählt Matthias Fahrig. So etwas kann - geradezu im wahrsten Sinne des Wortes - ins Auge gehen. Fahrig kennt das aus Erfahrung: "Dann landet man auf dem Gesicht - und das tut höllisch weh."
Beim Training in Japan ist das nicht der Fall. Bundestrainer Andreas Hirsch begutachtet den Sprung und segnet ihn ab. Einige Tage später wird die Welturaufführung zum Triumphzug. Fahrig steht den "Fahrig". Über 3 000 Japaner in der Halle stehen Kopf, die Turnkollegen, Trainer und Kampfrichter staunen.
"Fahrig" nur für große Auftritte
Matthias Fahrig hat seinen Sprung inzwischen selbst zur Rarität erklärt. Auf dem Trainingsplan steht das Element nur selten. "Das geht nur mit Volldampf im Kopf", erklärt Fahrig, und das ist ein, zwei Mal in der Woche. Auch im Wettkampf wird er es dosiert einsetzen. In der Bundesliga etwa punktet er damit nicht. Es bleibt für die großen Auftritte vorbehalten, für die großen Meisterschaften wie die WM im Oktober in Rotterdam. Steht er den "Fahrig" dort wieder, wäre er schon allein wegen dieser Schwierigkeit ein Medaillenkandidat am Boden.
Dass die Konkurrenz schnell nachzieht, glaubt der Sportler nicht. "Das wird hoffentlich eine Weile dauern, bis ich den "Fahrig" bei anderen mal ansehen kann", sagt der Europameister an diesem Gerät. Wobei gerade das doch eine besondere Form der Genugtuung wäre - wenn die gesamte Turn-Weltelite den Hallenser nachmachen müsste.
Matthias Fahrig hat allen die Schau gestohlen, vor allem dem großen Superstar Fabian Hambüchen. Der redet schon seit Jahren davon, an einem Element zu arbeiten, das einmal seinen Namen tragen wird. "Er war in Japan einer der ersten Gratulanten", sagt Fahrig. Ob dabei auch ein wenig Neid im Spiel war? "Keine Ahnung. Und wenn, ist mir das auch egal. Da muss er eben durch."