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Tradition zur Einschulung Tradition zur Einschulung: Die größten Tüten gibt's im Osten

Von Tino Moritz 30.07.2010, 08:17
Eine Mitarbeiterin der Firma Roth Edition GmbH bereitet Schultüten für den Versand vor. (FOTO: DPA)
Eine Mitarbeiterin der Firma Roth Edition GmbH bereitet Schultüten für den Versand vor. (FOTO: DPA) dpa-Zentralbild

Lichtentanne/Ehrenfriedersdorf/dpa. - Manche Unterschiedezwischen Ost und West halten sich einfach. Der zur Einschulungbeträgt 15 Zentimeter, genauso wie vor der deutschen Einheit. «ImWesten sind die Schultüten 70 und im Osten 85 Zentimeter lang», sagtKlaus Roth. Der Geschäftsführer der Firma Roth Edition imerzgebirgischen Lichtentanne muss es wissen. Sein 40-Mann-Betriebstellt pro Jahr 600 000 Schultüten her. Eine Hälfte geht in den Ost-Markt, die andere in den West-Markt.

Warum es den Größen-Unterschied gibt, weiß Roth nicht. Er weißnur: «In den alten Ländern wird Schulanfang weniger groß gefeiert.»In den neuen ist das anders: Da geht es in großer Gesellschaft meistins Restaurant. Auf Geschenke verzichten müssen zwar auch West-Schulanfänger nicht. Aber in ihrer Tüte, die auch noch rund statteckig wie die im Osten ist, gibt es einfach weniger Platz fürPräsente.

Sachsens Kultusminister Roland Wöller (CDU) hatte bei seinerEinschulung 1977 im baden-württembergischen Heilbronn zum Glück nurden Vergleich mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester: «Sie bekamdamals auch eine Schultüte - damit sie nicht traurig ist. Die waraber viel kleiner als meine», sagt der heute 40-Jährige.

Tatsächlich sind ab fünf Zentimetern aufwärts jede Menge Tüten-Größen im Umlauf, vor allem für die lieben Verwandten und auch zuDekorationszwecken. Selbst für Omas gibt es gleich zwei Varianten:Die «wohlhabendere» verschenke ein 60 Zentimeter langes Exemplar, die«normale» ein 50-Zentimeter-Stück, sagt Roth. So bleibt die Tüte vonden Eltern in jedem Fall die größte - egal ob in Ost oder West.

Geschäftsmann Roth hofft darauf, dass sich Einschulungsfeiern auchmehr und mehr in Westdeutschland durchsetzen. Die Rechnung isteinfach: Je größer die Party ist, um so mehr Gäste kommen, alsowerden mehr Schultüten verschenkt. «Statistisch gesehen gibt es fürjeden Abc-Schützen sieben Schultüten», sagt Roth - und verweistdarauf, dass es bundesweit immer noch mehr als 700 000 Schulanfängergibt. Die Tütenbranche ist kreativ: Jedes Jahr werden auch neueProdukte mit neuen Designs auf den Markt geworfen. «Pink, Pferde,Prinzessinnen - da kann man nichts falsch machen», sagt FirmenchefRoth zu den Dauerbrennern.

Der pensionierte Hamburger Lehrer Hans-Günter Löwe beschäftigtsich seit drei Jahrzehnten mit der Geschichte des ersten Schultags.Den 15-Zentimeter-Unterschied kann aber auch er nicht erklären. «DieQuellenlage ist einfach miserabel», sagt der 67-Jährige. Deshalbkönne er nur vermuten, dass die Hersteller in Ostdeutschland andersals die im Westen einfach in der Lage waren, etwas größere und ebenauch eckige Tüten zu fabrizieren.

Löwe zufolge kam der Brauch im 19. Jahrhundert in Sachsen undThüringen auf. Fabrikmäßig produziert wurden Zuckertüten bereits vor100 Jahren im Erzgebirge beim Familienbetrieb Nestler - «um 1910»,genau sei das leider nicht zu belegen. Damals saß dieEhrenfriedersdorfer Firma Nestler, heute mit jährlich 1,8 MillionenSchultüten Marktführer, noch in Wiesa. «Seit der Zeit wanderte derSchultütenbrauch dann in das übrige Deutschland», ist Löwe überzeugt.

Die promovierte Sprachwissenschaftlerin Ruth Geier von der TUChemnitz weiß zu berichten, dass der Begriff Zuckertüte in den 1960erJahren in Westdeutschland abgelöst wurde - «ausgesundheitspolitischer Korrektheit». Auf die Idee einer patentiertenSchutzspitze kam indes auch im Westen keiner, sondern erst die FirmaRoth, die 2004 mit der Herstellung eigener Zuckertüten begann. Mitdieser Spitze wird die Tüte vor dem Umknicken bewahrt.

Erich Kästner hätte diese Erfindung wohl geholfen. Er kam sich beiseiner Einschulung zu Ostern 1906 in Dresden vor «wie einZuckertütenfürst», schrieb der Schriftsteller in seinenKindheitserinnerungen «Als ich ein kleiner Junge war». Es habe damals«kleine, mittelgroße und riesige Zuckertüten» gegeben. Seine eigenehabe ihm «bis zur Nasenspitze» gereicht. «Ich trug meine Tüte wieeine Fahnenstange vor mir her.» Doch dann sei er an einer Stufegestolpert «und dabei brach die Tütenspitze ab (...) Schließlichhielt ich nur noch einen bunten Kegelstumpf aus Pappe in den Händen,ließ ihn sinken und blickte zu Boden. Ich stand bis an die Knöchel inBonbons, Pralinen, Datteln, Osterhasen, Feigen, Apfelsinen, Törtchen,Waffeln und goldenen Maikäfern. (...) Welch ein Überfluß!»

Lukas Roth, kaufmännischer Leiter der Firma Roth Edition GmbH, zeigt eine westdeutsche (l.) und eine ostdeutsche Schultüte. (FOTO: DPA)
Lukas Roth, kaufmännischer Leiter der Firma Roth Edition GmbH, zeigt eine westdeutsche (l.) und eine ostdeutsche Schultüte. (FOTO: DPA)
dpa-Zentralbild