Sittengemälde Sittengemälde: Gutes Benehmen in Ost und West
Halle (Saale)/MZ. - Phantomschmerz beim Prinzen? Oder Nachwirkungen eines Kulturschocks, den der in Mexiko aufgewachsene Ex-Schüler eines bayerischen Eliteinternats in seinen Jahren in Dresden erlitten hat? Lothar Regehr teilt die Beobachtungen des Wettiners. Doch der Tanzlehrer aus Halle führt sie auf andere Ursachen zurück. "Nicht die DDR ist schuld", sagt der 74-Jährige, der seit 1960 eine Tanzschule betreibt. Regehr erinnert sich an "gut erzogene junge Leute", die zu ihm kamen, um die ersten Tanzschritte zu lernen. "Die Benimmregeln kannten die alle schon." Heute sei das anders. "Eltern haben keine Zeit mehr, in der Schule ist Benehmen kein Thema, der Respekt ist weg", sagt Lothar Regehr.
Aufstehen, wenn ältere Leute die Straßenbahn besteigen. Frauen die Tür aufhalten. Höflich die Hand geben. Grundregeln des Anstands, deren Einhaltung aufgrund unterschiedlicher Traditionen in Ost und West zum Urteil führen kann, es gebe kein Benehmen im Osten. "Gibst Du einem aus dem Westen die Hand zur Begrüßung, kann es sein, dass der das seltsam findet", sagt Michael Woizik, der in Staßfurt einen Shop für DDR-Artikel betreibt. Er selbst erinnere sich genau, gut erzogen worden zu sein: "Händewaschen vor und nach dem Essen, gerade sitzen, nicht fernsehen beim Essen." Andererseits bemerke auch er, dass "der alte Ossi aus DDR-Zeiten" in letzter Zeit häufiger wieder auftauche. "Wer Arbeit in einer Behörde hat, benimmt sich oft wieder so, als seien die Leute, die zu ihm kommen, Bittsteller."
Andere Erfahrungen
Woiziks Erfahrungen aus dem Alltag sind ganz andere. "Die Leute helfen sich und gehen höflich miteinander um, wie wir es gelernt haben." Das sei allerdings "das ganz normale Leben, das der Herr Prinz natürlich nicht kennen kann".
So wenig wie die Funktionäre des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB vor 30 Jahren die Wirklichkeit hinter den Fassaden des "sozialistischen Kulturlebens" kannten, für die Walter Ulbricht mit seinen "Zehn Geboten der sozialistischen Moral und Ethik" im Jahre 1958 das Fundament gelegt hatte. Dieser DDR-Knigge sprach nicht von Fischbesteck, Türaufhalten und Weinkunde, sondern davon, "gute Taten für den Sozialismus zu vollbringen". Der sozialistische Mensch sollte sich freimachen vom Hang des deutschen Kleinbürgers zur Aneignung großbürgerlicher Umgangsformen, den der ja nur pflege, um Karriere zu machen, wie der SED-treue Pfarrer Karl Kleinschmidt in seiner Anstandsfibel "Keine Angst vor guten Sitten" aufklärte. Dennoch müsse natürlich beachtet werden, "dass zum Anzug ein Schlips gehört, dessen Farbe zu der des Hemdes passen muss wie dieses zum Anzug".
Sighard Gille hat Ende der 70er ein Bild davon gemalt, wie es aussehen konnte, wenn der Schlips zum Schwips passte. "Brigadefeier" zeigte den sozialistischen Menschen als enthemmtes Partytier. Und sorgte mit diesem Tabubruch prompt für einen Sturm der Entrüstung. "Zumindest bei den Funktionären", sagt der Heisig-Schüler heute. Denn sein Bild sei zwar "deftig gemalt" gewesen, habe aber eigentlich ja nur abgebildet, "was ich mehrfach erlebt habe".
Von wegen, so feiere er nicht, der neue Mensch. Von wegen "bei uns bleibt der Schlips fest". Gille, der heute in Leipzig lehrt und malt, lächelt: "Die Menschen sind doch auf die Art auch ausgebrochen und haben gelebt." Was nach Ansicht des Kunstprofessors im Westen auch nie anders war und nicht anders ist. "Dort ist es nur versteckter."
Höflichkeit als Tarnung
Höflichkeit als Tarnung? Das von Gästen aus den alten Ländern als plump-vertraulich empfundene "Du" dagegen, in der DDR so weit verbreitet wie sonst nur in Skandinavien, ein Ausweis von unverstellter Offenheit? Björn Casapietra, als Sohn der Sopranistin Celestina Casapietra in Italien geboren, aber in der DDR aufgewachsen, lobt das, was der Prinz von Sachsen kritisiert, als "eine Form der Ehrlichkeit". Ostdeutsche seien wesentlich direkter und ehrlicher im Umgang miteinander als die Westdeutschen. "In den alten Ländern passiert es schon eher, dass man angelächelt wird, aber hintenrum meint derjenige es komplett anders."
Kein gutes Benehmen und vor allem kein gutes Beispiel. "Außen hui, innen pfui", sagt Peter Lehmann, der jahrelang als Monteur quer durch Deutschland unterwegs war. "Wer so etwas erlebt hat, sehnt sich nach einer ostdeutschen Kellnerin, die keinen Zweifel daran lässt, dass der Gast ihr egal ist."
Dann gibt es wenigstens was zu meckern, wie Casapietra sagt. Das sei nämlich tatsächlich eine sehr ostdeutsche Eigenschaft, die wohl tiefer mit der DDR zu tun habe als die Frage der Umgangsformen: "Das Schimpfen auf andere, statt das eigene Schicksal selber in die Hand zu nehmen."