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Serie Serie: Erste Stippvisite im Osten

Von Ernst Krziwanie 17.10.2005, 16:57

Halle/MZ. - Nur eine Dreiviertelstunde dauert der Flug 4U 072 mit Germanwings von Köln-Bonn zum Airport Leipzig-Halle. Unter den Passagieren ist auch Frank Schergel. Es ist sein erster Besuch im Osten. Obwohl er gern verreist. Er war in Brasilien, in Spanien und in Frankreich. Als 15 Jahre Deutsche Einheit gefeiert wurde, sah der FC-Köln-Fan in London das Fußballspiel Arsenal gegen Birmingham. "Einmal ein Spiel der Premiership in England sehen, war immer mein Traum."

Von einer Reise in die neuen Bundesländer hat Schergel nie geträumt. Wie viele Westdeutsche. 16 Jahre nach dem Mauerfall waren laut Forsa-Umfrage 32 Prozent noch nie in Ostdeutschland. Dort machen die "Westreise-Verweigerer" nur vier Prozent aus. Hätte der Kölner nicht die Einladung zur Begegnung mit einem Lehrerkollegen in Halle erhalten, wäre der Osten noch lange ein weißer Fleck in seinen Reiseplänen. Mit Ignoranz habe das nichts zu tun. "Mich zieht es auch im Westen nicht überall hin."

Reisen in den Westen

Thomas Gaube reiste schon in der Wendezeit "nach drüben". Kaum bot sich Reisefreiheit, belegte er einen Bildungskurs für Ost-Lehrer in Berlin-Zehlendorf. Er liebt die Berge Bayerns, bereiste die Weinstraße am Rhein und besuchte Köln. Gut möglich, dass sich Gaube und Schergel dort über den Weg gelaufen sind. Kennen gelernt haben sie sich erst jetzt in Halle durch die Leseraktion von Kölner Stadt-Anzeiger und Mitteldeutscher Zeitung. Vor der ersten Begegnung wusste keiner mehr vom anderen als Name und Beruf. Mit Halle verband Schergel nur: "Industriestadt, nicht sehr attraktiv". Ein Trugschluss, wie er nach den zwei Tagen bekennt. Denn Thomas Gaube zeigte ihm nicht nur Schulalltag. Er führte den Kölner durch seine grüne Geburtsstadt, an die Saale, zu Händel, den Halloren, durch sanierte Gründerzeitviertel, zur Universität und zu seinem neuen Haus im einstigen Areal der Sowjetarmeekasernen in Heide-Süd. "Irgendwie hat mir da jemand ein falsches Bild von der Stadt vermittelt", sagt Schergel.

Doch auch Gaube war nicht vorurteilsfrei. "Hoffentlich kommt da nicht so ein verknöcherter West-Studienrat", bekennt er anfängliche Befürchtungen. Als es der 42-Jährige seinem 39-jährigen Kollegen aus Köln erzählt, müssen beide lachen. "Wenn man sich trifft, merkt man schnell, wie unsinnig Vorurteile sind", so Gaube. Statt nach Trennendem solle man lieber nach Gemeinsamkeiten suchen.

Gemeinsam ist ihm und Schergel nicht nur der Beruf. Wie sich herausstellt, unterrichten beide Mathematik. Schergel in der Willy-Brandt-Gesamtschule Köln-Höhenhaus, Gaube am Gymnasium im Bildungszentrum Halle-Neustadt. Spaß mache es hier wie dort, wenn nicht, wie beide übereinstimmend beklagen, Aktionismus und Massen von Erlassen die Freude an der Arbeit trüben würden. Gaube schwärmt von den ersten Jahren nach der Wende. "Da konnte ich vor allem Lehrer sein. Jetzt belastet die zunehmende Bürokratie."

Buch zur Musikszene

Trotzdem bleibt beiden Zeit für Sport und Musik. Gaube kennt alle Titel Udo Lindenbergs, Schergel mag englischen Pop und Kölns Musikszene. Ihr widmete er sein Buch "Ohne Musik ist quasi alles lau". Dem Hallenser ist ein Titel "Ohne Mathe ist alles lau" zuzutrauen. Er lebt für sein Fach und für seinen Beruf. Obwohl er nur 92 Prozent des West-Gehaltes bekommt und andere Ost-Kollegen gerade 84 Prozent. Zum Gesprächsthema der beiden wird das Geld aber nicht.

Umso mehr die Pendelei zwischen zwei Schulgebäuden. Zwei Tage hin und her in der einstigen "Stadt der Chemiearbeiter" mit den fünf-, zehn- und zwanziggeschossigen Plattenbauten. "Nervig" empfindet Schergel die Wechselei und noch mehr den frühen Schulanfang: "Bei uns geht es nie vor acht Uhr los".

Thomas Gaubes Gymnasium musste 2004 mit dem Christian-Wolff-Gymnasium fusionieren. "Aber besser so, als ganz dicht gemacht", meint Gaube. Denn mehr als 700 Schulen wurden in Sachsen-Anhalt seit 1991 schon geschlossen, als Folge von rapidem Schülerrückgang. "Bei uns kein Thema", sagt der Kölner. "Bei euch fehlen Schüler, bei uns fehlen Lehrer. Und jetzt kommt das Zentralabitur auf uns zu." Da kommt ihm das Angebot gelegen, mal Gaubes Schüler allein zu unterrichten. "Analytische Geometrie" steht auf dem Stundenplan. "Für Nordrhein-Westfalen" steht auf dem Lehrbuch. "Warum nicht", fragt Gaube. "In Mathematik geht es nicht um Ost und West."

Ein Irrtum, wie sich herausstellt, als Schergel mit den Gymnasiasten Testaufgaben für das Abitur behandelt. Dass das ein Kölner macht, berührt die 17-Jährigen wenig. Nur als der Lehrer aus dem Westen hinter eine Gleichung ein zweites Gleichheitszeichen setzt, gibt es lauten Protest. "Das ist falsch", korrigiert ihn Sabine Kersten. "Eine Gleichung hat nur eine linke und eine rechte Seite." Auf Schergels Einwand, "das nicht so formal zu sehen", gehen die Schüler nicht ein. Sie bestehen auf ihrem Rechenweg - das Gleichheitszeichen unterscheidet Ost und West.

Als Frank Schergel von Thomas Gaube Abschied nimmt, haben sie nicht nur Telefon-Nummern und E-Mail-Adressen getauscht. Auch das Versprechen, in Kontakt zu bleiben. "Zumal es ja auch eine Direktverbindung von Köln nach Dresden gibt", wie Schergel vor dem Abflug erfährt. Das werde demnächst sein Ziel. Und einen Abstecher nach Halle? Auch den plane er ein.