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Rechtsextremismus Sachsen und der NSU: Auch 10 Jahre nach Selbstenttarnung noch wichtige Fragen offen

In Sachsen hatte der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) sein Basislager. Von hier führte seine blutige Spur durchs Land. Obwohl kein Tatort der Morde im Freistaat lag, steht auch Sachsen im Fokus.

Von Jörg Schurig, dpa Aktualisiert: 27.10.2021, 10:56
Blick auf das am 04.11.2011 durch eine Explosion zerstörte Haus in Zwickau, dem Unterschlupf des rechtsextremen «Nationalsozialistischen Untergrundes» (NSU).
Blick auf das am 04.11.2011 durch eine Explosion zerstörte Haus in Zwickau, dem Unterschlupf des rechtsextremen «Nationalsozialistischen Untergrundes» (NSU). (Foto: dpa/archiv)

Dresden/dpa - Wenn die sächsische Linke-Politikerin Kerstin Köditz an den 4. November 2011 und die Tage danach denkt, ist ihr ein Gefühl noch immer präsent: „Mir lief es eiskalt den Rücken herunter.“ Die 54-Jährige kennt sich in Sachsen wie kaum eine Zweite in der rechtsextremen Szene aus, hält bis heute Vorträge über den NSU auch in anderen Bundesländern. Noch immer sieht sie einige Fragen offen und ist beschämt über das, was deutsche Sicherheitsbehörden versäumten.

„Es stellte sich heraus, wie fehlerhaft die Mord-Ermittlungen waren. Da wurde massiv im Umfeld der Opfer gesucht. Niemand kam auf einen rassistischen Hintergrund“, sagt Köditz. Zum Zeitpunkt der Morde seien die Opfer selbst in Verdacht geraten, an Drogenhandel oder organisierter Kriminalität beteiligt zu sein. „Das war schlimm für die Angehörigen.“ Schlimm sei bis heute für Hinterbliebene auch die Ungewissheit, wie tief der Verfassungsschutz mit seinen V-Leuten und damit der Staat insgesamt in das Geschehen verwickelt war.

NSU-Terrorsiten lebten jahrelang unentdeckt in Zwickau

Für Köditz ist es kein Zufall, dass der NSU in Sachsen abtauchte. Denn hier habe ein ideales Unterstützer-Umfeld mit Organisationen wie dem 2000 verbotenen rechtsextremen Netzwerk „Blood and Honour“ existiert - gerade im Raum Chemnitz. „Nur hatten sächsische Behörden das nicht auf dem Schirm. Als könnten Thüringer Neonazis nicht nach Sachsen kommen, als gebe es eine Mauer zwischen den Freistaaten.“ Köditz ist überzeugt: Hätten Sicherheitsbehörden beider Länder ihren Job richtig gemacht, wäre der NSU gar nicht zum Morden gekommen.

Jahrelang hatte der NSU unentdeckt in Zwickau gelebt. Das Terror-Trio mit Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe wurde für zehn Morde und weitere Straftaten verantwortlich gemacht. Böhnhardt und Mundlos nahmen sich nach einem Banküberfall am 4. November 2011 in Eisenach das Leben. Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Eine Kombo aus Reproduktionen der Ostthueringer Zeitung aus dem Jahr 1998 zeigt Fahndungsbilder von Beate Zschäpe (v.l.n.r.), Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Das Trio bildete die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).
Eine Kombo aus Reproduktionen der Ostthueringer Zeitung aus dem Jahr 1998 zeigt Fahndungsbilder von Beate Zschäpe (v.l.n.r.), Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Das Trio bildete die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).
(Foto: dpa/archiv)

In Sachsen befassten sich zwei Untersuchungsausschüsse des Landtages mit dem Geschehen. Zuvor hatten sich Vertreter der Opposition mehrfach beschwert, dass die Regierung nur scheibchenweise Informationen zu Erkenntnissen über das Trio lieferte. „Es kann nicht sein, dass die Lektüre der Morgenzeitung ergiebiger ist als die Auskünfte der Staatsregierung“, sagte der damalige SPD-Fraktionschef Martin Dulig, heute Wirtschaftsminister in Sachsen.

Im April 2012 nahm der erste parlamentarische U-Ausschuss auf Antrag von Linken, SPD und Grünen seine Arbeit auf - gegen den Willen von CDU und FDP. Er sollte mögliche Fehler der sächsischen Regierung und ihr untergeordneter Behörden bei der Aufklärung des NSU beleuchten. Sachsens Geheimdienst besaß laut offizieller Darstellung nach 2001 keine Informationen mehr über die rechtsextreme Terrorzelle.

NSU: Linke und Grüne warfen Geheimdienst komplettes Versagen vor

Ein Mitarbeiter des Landeskriminalamtes Sachsen gab zu Protokoll, das Amt habe nichts über das Wirken und den Verbleib des NSU in Sachsen gewusst. Man sei nur „punktuell“ in Maßnahmen Thüringer Zielfahnder eingebunden gewesen: „Alle Maßnahmen zum Auffinden des Trios blieben ohne Erfolg.“ Die Polizei habe auch keinen Zusammenhang zu Banküberfällen im Raum Chemnitz gesehen. Mit dem dabei erbeuteten Geld hatte das Trio sein Leben im Untergrund finanziert.

Fazit des ersten Ausschusses: Nach Ansicht von Linken, SPD und Grünen hatten sächsische Behörden durch Versäumnisse und Fehler dazu beigetragen, dass der NSU unentdeckt im Freistaat leben konnte. CDU und FDP sahen dagegen keine Schuld bei hiesigen Behörden und Beamten. Da der Ausschuss bis Ende der Legislatur nur ein Drittel der geplanten Zeugen vernehmen konnte, kam es 2015 zu einer Neuauflage.

Als der zweite Ausschuss im Sommer 2019 seinen Abschlussbericht vorlegte, sah die Bilanz etwas anders aus. Linke und Grüne warfen dem sächsischen Geheimdienst ein komplettes Versagen vor und forderten eine Auflösung des Landesamtes für Verfassungsschutz. Die SPD - inzwischen in der Regierung - räumte genau wie die CDU Defizite der Behörden ein, vermochte aber keine nachweisbare Schuld zu erkennen.

Köditz bedauert es noch heute, dass sich der Generalbundesanwalt bei seiner Anklage auf Zschäpe und wenige Personen konzentrierte. „Für mich ist das gesamte Netzwerk noch offen. Ich gehe davon aus, dass es Leute gab, die von den Morden wussten und in verschiedener Weise an den Straftaten beteiligt waren. Dass es keine Anklagen mehr geben wird, ist ein großes Dilemma.“

NSU in Sachsen: Finanzierung und Rolle und Umfang von Unterstützungsnetzwerken unklar

„Dass den kaltblütigen Morden und Verbrechen des NSU über Jahre kein Einhalt geboten wurde, ist und bleibt eines der größten Versagen der Sicherheitsbehörden“, sagt Grünen-Innenpolitiker Valentin Lippmann. Er konstatiert, dass es „die organisierte Verantwortungslosigkeit, die fehlende Kompetenz, die Unbeständigkeit und das Desinteresse beim Landesamt für Verfassungsschutz“ waren, die es dem Trio und seinem Umfeld möglich machten, unbehelligt in Sachsen unterzutauchen und von hier aus die Morde zu planen und Banküberfälle zu begehen.

„Auch zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU bleiben wichtige Fragen weiterhin offen. Das gilt mit Blick auf Sachsen vor allem für die Rolle und den Umfang von Unterstützungsnetzwerken und die Finanzierung der Terroristen“, sagt Lippmann. Ob Sicherheitsbehörden in Sachsen aus ihrem Versagen die richtigen Schlüsse gezogen haben, dürfe mit Blick auf die vergangenen Jahre bezweifelt werden.

Köditz ist der gleichen Meinung. „Wir reden jetzt seit zehn Jahren davon, dass wir ein Gesamtkonzept brauchen, um die extreme Rechte zurückzudrängen. Ich sehe nur einzelne Bemühungen. Jeder macht seins und denkt, immer alles richtig zu machen.“