Vorurteile von Nichtwählern Vorurteile von Nichtwählern: "Wären Wahlen wichtig gäbe es eine Wahlpflicht"
Halle (Saale) - Am 13. März wird der neue Landtag von Sachsen-Anhalt gewählt. Das elektrisiert nicht jeden. Viele Sachsen-Anhalter sind bei der Wahl 2011 zu Hause geblieben. Eine Studie hat ermittelt, warum das so war. Die Mitteldeutsche Zeitung setzt sich in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung mit Klischees und Vorurteilen von Nichtwählern auseinander. Heute in Teil 5: „Ich bin doch nicht blöd und geh’ wählen, wenn Wahlen wichtig wären, dann gäbe es doch eine Wahlpflicht.“
Die Wahlbeteiligung in der DDR war hoch. Sehr hoch. Ein Ergebnis jenseits der 99-Prozent-Marke wurde bei Volkskammer- und Kommunalwahlen immer erreicht. „Das waren natürlich gefälschte Werte“, sagt Matthias Waschitschka. Der 51-Jährige gehörte in der DDR zur Opposition und war in Umwelt- und Kirchenkreisen aktiv. „Doch auch wenn man nicht gefälscht hätte, wäre die Beteiligung hoch gewesen“, ist er sich sicher.
In der DDR gab es zwar keine gesetzliche Wahlpflicht, doch es herrschte, was Waschitschka als „Wahldruck“ bezeichnet. An Wahltagen wurden am Nachmittag oft Leute losgeschickt, um diejenigen an die Stimmabgabe zu erinnern, die noch nicht im Wahllokal erschienen waren. „Zu alten und kranken Menschen schleppte man die Urnen sogar nach Hause, um sie unter diesem Druck zur Stimmabgabe zu bewegen“, erinnert sich Waschitschka.
Ein Prozedere, das auch Petra Hoffmann als widersinnig empfand. „Wir hatten ja eigentlich keine Wahl, denn die Ergebnisse standen ja ohnehin schon vorher fest“, sagt die 69-Jährige. Sie beteiligte sich an der DDR-Friedensbewegung, stand dem Staat kritisch gegenüber. Trotzdem ging sie immer zur Wahl. „Aber der Stimmabgabe hat kaum ein Bürger eine Bedeutung beigemessen“, meint Hoffmann. Im Volksmund sagte man deswegen spöttisch, man gehe „Zettel falten“.
Zwang zum Urnengang
Nun ist der autoritäre DDR-Staat nicht mit der bundesdeutschen Demokratie vergleichbar. Damals ging es bei Wahlen um die Selbstbestätigung des Regimes. Heute geht es um die Selbstbestimmung der Bürger. Das Beispiel DDR zeigt jedoch, dass die Pflicht zur Stimmabgabe zwar eine hohe Beteiligung nicht jedoch eine hohe Bedeutung der Wahl sichert.
Trotzdem wird eine erzwungene Stimmabgabe auch in Deutschland immer wieder gefordert. „Vorbilder dafür gibt es ja einige“, meint Michael Kolkmann. Er ist Politikwissenschaftler an der Uni Halle. Mit seinen Studenten diskutiert er oft das Thema Wahlpflicht. „In Belgien etwa ist sie im Gesetz verankert und dort liegt die Beteiligung bei 96 Prozent“, erzählt Kolkmann.
Ein solches System wäre in Deutschland eine Neuheit. Das Recht, Repräsentanten zu bestimmen, gab es erstmals zur Wahl der Frankfurter Nationalversammlung 1848. Zuvor war das nur bestimmten Personengruppen - etwa dem Adel oder reichen Bürgern - gestattet. Doch auch nach 1848 existierte noch eine entscheidende Beschränkung: Es durften nur Männer ihre Stimme abgeben. Dieses Privileg wurde erst 1918 gebrochen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich dann in der BRD die heute noch gültigen Wahlgrundlagen. Ob diese allerdings eine Wahlpflicht zulassen würden, ist für Michael Kolkmann fraglich. „Das müsste man juristisch prüfen“, sagt er. Denn die Wahlpflicht könnte dem Grundgesetz widersprechen. In Artikel 38 steht dort, dass Wahlen „allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim“ sein sollen. Eine solche Passage ist auch in der Landesverfassung von Sachsen-Anhalt zu finden. Wichtig für die Wahlpflicht ist dabei das Wort „frei“. „Das sagt, dass ein Bürger bei der Stimmabgabe nicht gezwungen oder beeinflusst werden darf“, erklärt Kolkmann. Die Frage sei, ob das auch für die Wahlteilnahme an sich gelte.
Aber auch wenn eine Pflicht möglich wäre, ist nicht sicher, dass sie auch den gewünschten Effekt hätte. „Dafür spricht, dass sie die Menschen dazu bringen könnte, sich stärker mit politischen Positionen der einzelnen Parteien zu beschäftigen“, sagt Kolkmann. Allerdings sind auch negative Folgen denkbar. „Der Zwang könnte Wählerinnen und Wähler animieren, mit Absicht für extremistische Parteien zu stimmen.“ Auch bedeute eine Teilnahme nicht, dass man auch wirklich wählt. „Es ist ja möglich, einfach alles durchzustreichen“, erklärt Kolkmann. Diese ungültige Stimme hätte dann bei der Umrechnung der Stimmen in Mandate keinen Wert. Hinzu kommt noch, dass es ja auch Bürger geben kann, die sich tatsächlich politisch nicht festlegen können. Die müssten dann eine Entscheidung gegen ihre Überzeugung treffen.
Moralische Verantwortung
Für Petra Hoffmann ist eine Wahlpflicht aber ohnehin unvorstellbar. „Auch wenn ich es nicht gut finde, dass so viele Menschen ihre Stimme nicht abgeben“, sagt sie. „Kann man niemanden dazu zwingen, an Demokratie teilzunehmen.“ Vielmehr müsse man zeigen, was auf dem Spiel stehe. „Immerhin haben wir 1989/90 auch dafür gekämpft, dass unsere Stimme wieder etwas zählt“, sagt Hoffmann. Dass man die Errungenschaft von damals nicht einfach wieder aus der Hand geben sollte, sieht auch Matthias Waschitschka so. „Gerade aus der Erfahrung unfreier Wahlen heraus gibt es für mich persönlich schon jetzt eine Wahlpflicht“, sagt er. „Allerdings keine gesetzliche, sondern eine moralische.“
Und dass der Zwang zur Stimmabgabe nicht notwendig ist, um viele Menschen an die Urnen zu bewegen, bewies schließlich die letzte Wahl der DDR. Es war gleichzeitig die erste wirklich freie Stimmabgabe. Denn als am 18. März 1990 die Volkskammer gewählt wurde, war das SED-Regime bereits entmachtet. Der Druck war weg, die Wahlbeteiligung trotzdem hoch. Sie lag bei 93,4 Prozent. (mz)