Verbrechen in Mitteldeutschland Der Banküberfall von Mücheln: Kein Geständnis, keine DNA - Wie überführt man den Täter?
Martin B. soll am 7. April 2021 die Müchelner Volksbank ausgeraubt haben. Vor Gericht gibt es kaum Beweise. Wie die Kammer dennoch zu einem Entschluss kommt.
Mücheln/MZ - Es ist 9.20 Uhr. In Mücheln betritt ein Mann eine Bankfiliale, die Überwachungskamera filmt mit. Er trägt einen dunkelgrünen Poncho, eine Kapuze und eine OP-Maske. Nur zwei Bankangestellte sind im Raum. Zielstrebig geht der Maskierte zu einer der Mitarbeiterinnen, zieht eine Waffe und fordert, seinen Stoffbeutel mit Geld zu füllen. 45 Sekunden später ist er wieder weg. In seiner Tasche: 110.800 Euro.
Diese Szene, die sich in der Volksbank abspielt, beschäftigt neun Monate später das Landgericht Halle. In Fuß- und Handfesseln sitzt ein heute 77-jähriger Rentner auf der Anklagebank. Der Vorwurf: Er soll die Bankfiliale in Mücheln im April 2021 ausgeraubt haben. Doch die Frage für das Gericht ist: Ist das wirklich der Mann aus dem Überwachungsvideo?
Unstrittig ist zwar, dass der angeklagte Martin B. in seinem Leben viel verbrochen hat. Mehr als 50 Einbrüche, ein Gefängnisausbruch und fünf Jahre Flucht vor der Polizei gehören zu dem Lebenslauf des gebürtigen Berliners. Sein Beruf? „Ich bin 16-facher Ex-Bankräuber und Knastausbrecher mit 25 Jahren Hafterfahrung“, sagt er vor Gericht. Aber: Den Raub in der Saalekreis-Stadt Mücheln streitet er vehement ab. Es ist ein besonderer Prozess mit einer besonderen Ausgangslage: Denn B. schwört von Beginn an, nichts mit der Tat zu tun zu haben – und die Staatsanwaltschaft hat zunächst keine unzweifelhaften Beweise, um seine Schuld eindeutig zu belegen. Es gibt kein Geständnis und auch keine belastenden DNA-Spuren vom Tatort. Für Prozessbeobachter ist zunächst unklar, wie dieses Verfahren ausgehen wird. Doch das Gericht ist sich am Ende sicher: Martin B. ist schuldig.
Der kleinsten Spur folgen
Für diese Art von Verfahren haben Juristen ein Fachwort: Indizienprozess. Über Schuld und Unschuld entscheiden allein die Schlussfolgerungen der Kammer – die Staatsanwaltschaft legt zuvor so viele Hinweise zum möglichen Tatablauf dar, bis die Wirklichkeit ausreichend rekonstruiert werden kann. Auch Morde ohne Leichen können auf diese Weise bestraft werden. „Die Ermittlung der Wahrheit ist die zentrale Aufgabe des Strafprozesses“, erklärt Sebastian Müller, Sprecher des Landgerichts Halle. Dabei sei es wichtig, wirklich alle greifbaren Beweismittel zu nutzen, betont der Richter der Großen Strafkammer. Sodass die Kammer am Ende ein gerechtes Urteil fällen kann.
So taucht das Gericht im Fall B. teils sehr tief in die Details ein, folgt auch noch der kleinsten Spur. Ein Beispiel: Das Nasengutachten für Martin B. Es soll die Schuld oder eben Unschuld des Angeklagten beweisen. Denn auf dem Überwachungsvideo aus der Bankfiliale erkennt man nicht viel vom Gesicht des Bankräubers – bis auf den oberen Nasenrücken. Der Rest wird von der OP-Maske verdeckt. B.s Anwalt will beweisen, dass sein Mandant nicht der Mann vom Video ist und bestellt deswegen den Experten, der die Nasenrücken miteinander vergleichen soll. Sein Ergebnis: Er könne nicht eindeutig bestätigen, dass es die Nase des Angeklagten sei. Aber ganz ausschließen könne er es eben auch nicht. Reicht das für ein Urteil?
„Grottenschlechte Arbeit“
Im Prozess geht es nicht nur um Körpermerkmale des Angeklagten. Auch mit technischen Hilfsmitteln will das Gericht herausfinden, ob B. am Tag des Überfalls vor Ort war. So versucht das Gericht zu rekonstruieren, ob das Handy des Angeklagten in der Nähe der Bank war. Und tatsächlich schildert ein Polizist, dass man B.s Handy in der Nähe der Bank geortet habe. Am Ende sind die Daten aber nicht genau genug. War B. mit seinem Handy wirklich in der Filiale? Sicher nachzuweisen ist das nicht.
An Verhandlungstagen wie diesem beschwert sich der Angeklagte immer wieder über Polizei und Staatsanwaltschaft. Mehrmals ergreift er das Wort: Die Behörden hätten „grottenschlechte“ Ermittlungsarbeit geleistet. Er behauptet auch: So, wie die Staatsanwaltschaft den Raub darstelle, sei er in der Praxis gar nicht möglich. Stattdessen deutet der 77-Jährige an, es hätte eine Art „Insidergeschäft“ gegeben, und versucht so, die Schuld von sich zu weisen. Unrealistisch sei es für ihn, die Bank innerhalb von 45 Sekunden auszurauben und mehr als 110.000 Euro zu erbeuten. „Der Beruf des Bankräubers ist schon lange ein aussterbender Beruf“, betont er.
Richtig ist: Banküberfälle wie dieser landen immer seltener vor Gericht. Während es zwischen 2002 und 2011 insgesamt 170 erfasste Fälle in Sachsen-Anhalt gab, waren es in den vergangenen zehn Jahren nur noch 57, wie eine Auswertung des Landeskriminalamts Sachsen-Anhalt auf MZ-Anfrage zeigt. 2021 wurden gerade einmal zwei Überfälle erfasst. Ein Grund: Das Risiko, erwischt zu werden, ist enorm gestiegen. Zudem schließen landesweit immer mehr Filialen. Dazu kommt, dass vor Ort in aller Regel keine höheren Geldbeträge gelagert werden. Ausgerechnet in Mücheln ist das aber anders. Mehr noch: Zum Zeitpunkt des Überfalls steht der Tresor bereits offen, sodass der Täter mit 110.800 Euro fliehen kann. Eine der Bankangestellten begründet das vor Gericht damit, dass sich ein Geschäftskunde für den Tag des Bankraubs angemeldet habe, weil er viel Geld abholen wollte.
Obwohl B. die Tat zwei Monate lang abstreitet, ist die Staatsanwaltschaft am Ende überzeugt: Er soll gut zehn Jahre ins Gefängnis. Den Ausschlag gibt die 24-jährige Hauptbelastungszeugin. Sie kennt den 77-Jährigen durch einen Freund, der mit dem Angeklagten zusammen im Gefängnis war. Nach einigen Treffen sei die Verbindung intensiver geworden. Mehr als Freundschaft sei es aber nie gewesen, behaupten die junge Frau und der Angeklagte. Eines Tages habe er sie angerufen und den Überfall gebeichtet. Warum er das tat, bleibt unklar, sagt sie. Sie habe es vorerst für sich behalten – bis es zwischen den beiden gekriselt habe und es zu einem Streit gekommen sei. Im Eifer des Gefechts habe sie ihm mit der Polizei gedroht und behauptet, sie würde ihn verraten. Zwar zeigt sie ihn am Ende nicht an – als es aber doch zum Prozess kommt, wird sie zur wichtigsten Zeugin.
Kammer schenkt ihr Glauben
B.s Verteidiger versucht, die Aussagen der Frau in Zweifel zu ziehen. Sie sei selbst bereits zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden – wegen Falschaussage in einem anderen Prozess. Deswegen überprüft die Kammer, wie glaubwürdig die 24-Jährige ist. „Der Zeuge ist das zentrale und wichtigste Beweismittel im Strafprozess“, erläutert Sebastian Müller. Um den Wahrheitsgehalt der Aussagen zu überprüfen, gebe es einige Anhaltspunkte: „Es gibt gewisse Realitätskriterien sowie Lügensignale, wie zum Beispiel Konkretheit, Detailreichtum oder Originalität.“ Bei einer lügenden Person seien nebensächliche Details und Emotionen nicht zu erwarten.
Im Fall des Müchelner Bankraubs glaubt die Kammer der 24-Jährigen. Zwei Monate haben Richter, Staatsanwälte und Verteidigung über Indizien, Hinweise und Spuren gestritten – jetzt hat jeder sein eigenes Bild. Zehn Jahre Gefängnis fordert die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer, B.s Anwalt will einen Freispruch.
„Der Angeklagte ist schuldig der räuberischen Erpressung“, sagt Richter Detlev Bortfeldt schließlich bei seiner Urteilsverkündung. B. wirkt erschrocken, hat kein Verständnis. Schon während der Plädoyers hat er das Verfahren als „Hätte-Wenn-und-Aber-Prozess“ bezeichnet. Er warnt: Es gebe bereits genügend Angeklagte, die zu Unrecht ins Gefängnis gehen mussten. Ihm selbst stehen nun gut neun Jahre bevor.
„Dass sich Urteile im Nachhinein als falsch herausstellen, kommt weltweit vor, auch in Deutschland und wohl auch in Sachsen-Anhalt“, erklärt Christian Hoppe, Landesvorsitzender des Bundes der Richter und Staatsanwälte in Sachsen-Anhalt. Doch eine Verurteilung sei nur statthaft, wenn sich das Gericht – in dem Fall zwei Richter und zwei Schöffen – von der Schuld des Angeklagten zweifelsfrei überzeugt habe. Diese Überzeugung dürfe ausschließlich auf den Beweismitteln beruhen und nicht auf Spekulationen oder Vermutungen.
In der Begründung des Urteils wird auch klar, warum das Gericht so entschieden hat. Die Beschreibung des Täters durch die Bankangestellten treffe zu, die Hauptbelastungszeugin wirke glaubhaft und auch die Vergangenheit des Angeklagten spreche dafür, nochmals so eine Tat begangen zu haben. „Sie haben aus unserer Sicht eine Persönlichkeitsschwäche, müssen immer prahlen und gut dastehen. Hätten Sie der Zeugin nichts gesagt, wäre es ja gar nicht erst rausgekommen“, belehrt ihn Richter Bortfeldt am Ende.
Trotz der Entscheidung gibt Martin B. nicht auf. Der 77-Jährige will das Urteil vom Bundesgerichtshof überprüfen lassen. Erfolg hat er nicht: Die Karlsruher Richter halten den Beschluss aus Halle für sauber, wie das Landgericht auf MZ-Anfrage mitteilt. Damit ist sie nun amtlich: Die nächste Gefängnisstrafe des Bankräubers Martin B.