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Zivile Seenotrettung Warum ein Sachsen-Anhalter Menschen vor dem Ertrinken retten will

Der Magdeburger Thomas Wieland entschied sich 2019 dazu, die zivile Seenotrettung zu unterstützen. Wieso er sich bei der Organisation „Sea Watch” engagiert und welche Herausforderungen er bei seiner Arbeit überwinden muss.

Von Pia Frenk Aktualisiert: 25.01.2023, 14:47
Der Magdeburger Thomas Wieland als Teil des medizinischen Teams an Bord der „Sea Watch 3".
Der Magdeburger Thomas Wieland als Teil des medizinischen Teams an Bord der „Sea Watch 3". (Foto: Thomas Wieland)

Halle (Saale)/MZ - Der Magdeburger Thomas Wieland ist 45 Jahre alt, hat ein Kind und ist IT-Berater in einer Firma. Er hat ursprünglich eine Ausbildung zum Industriemechaniker gemacht. „Ich bin darüber hinaus examinierter Krankenpfleger, habe dann Gesundheitswissenschaften studiert und bin so über Umwege in der IT gelandet.” Aber Thomas Wieland geht außerhalb seines Berufs noch einer anderen Sache nach. Mit seinen Fähigkeiten im medizinischen Bereich engagierte er sich 2019 erstmals auf dem Seenotrettungsschiff „Sea Watch 3” auf dem zentralen Mittelmeer. Wie kam es dazu?

Wenn nicht dort, wo dann?

„Als das losging 2014 und ich in den Nachrichten gesehen habe, wie tote Kinder an Land gezogen wurden - ich kann mich noch an die Bilder erinnern -, dachte ich mir, da muss man irgendwas machen und ich kann nicht tatenlos zusehen.” Die Zahlen sprechen für sich: Seit 2014 haben etwa 26.383 Menschen ihr Leben auf dem Mittelmeer gelassen oder gelten als vermisst. Das zentrale Mittelmeer ist laut Uno-Flüchtlingshilfe die tödlichste Fluchtroute der Welt. „Dadurch, dass ich examinierter Krankenpfleger bin, dachte ich mir, wenn sich nicht dort einbringen, wo dann”, so Wieland.

2015 wurde seine Tochter geboren und Wieland entschied sich zunächst, für seine Familie da zu sein. Doch das Vorhaben zu helfen verlässt den Magdeburger über die Jahre nicht. „Es stand schon länger fest, dass ich das machen will, und dann dachte ich mir: Ja, jetzt muss es sein.“ Ende 2019 fuhr er schließlich mit dem Schiff „Sea Watch 3“ der gleichnamigen Organisation auf das zentrale Mittelmeer.

Ist es Überzeugung oder Pflicht?

Was treibt den Magdeburger an? Ist es seine politische Überzeugung? „Das ist nichts, was ich politisch begründen würde, ich bin schon immer gegen Ungerechtigkeit gewesen. Ich empfinde es als ungerecht, widerwärtig und abstoßend, wenn Menschen verwehrt wird, sich dort aufzuhalten, wo sie sicher leben können. Ich meine, die Menschen leiden in Kriegsgebieten unter Hunger, unter Angst. Sie werden politisch verfolgt, wegen ihres Geschlechtes oder ihrer sexuellen Prägung. Das können wir uns hier in Deutschland überhaupt nicht vorstellen. In meinen Augen ist es einfach eine humanistische Pflicht, den Menschen zu helfen und sie nicht einfach sterben zu lassen“, erklärt Wieland.

Was ist Thomas Wielands Aufgabe an Bord?

Ende 2014 gründete sich die Non-Governmental Organisation (NGO) „Sea Watch” „aus einer Initiative von Freiwilligen […], die dem Sterben im Mittelmeer nicht mehr länger tatenlos zusehen konnten”, heißt es auf der Website der NGO.

Die Sea Watch 3, ist seit September 2022 von den italienischen Behörden festgesetzt.
Die Sea Watch 3, ist seit September 2022 von den italienischen Behörden festgesetzt.
(Foto: IMAGO/UIG)

Die Sea Watch 3 ist eines von drei aktuell von der NGO eingesetzten Schiffen. Die Organisation ist nicht die einzige, die auf dem Mittelmeer aktiv ist. Initiativen wie „Sea Eye“, „SOS Méditerranée“ und „Mission Lifeline“ betreiben ebenfalls zivile Seenotrettung. Thomas Wieland ist 2019 über einen Freund aber auf Sea Watch gestoßen.

Im Einsatz auf dem Schiff versorgt Wieland die Menschen medizinisch, sofern das erforderlich ist. Wie läuft das ab?

Nachdem die Menschen aus Seenot gerettet worden sind, „kommt das Medic-Team zum Einsatz. Wir führen eine Triage durch, das heißt, es wird erst einmal vorsortiert. Dabei schauen wir, wie es den Menschen geht, in welcher Verfassung sie sind. Frauen bekommen einen eigenen Bereich. Wir fangen an, rein optisch einzuteilen, wie dringend die Menschen behandelt werden müssen“, sagt Wieland.

„Oft haben die Menschen Verbrennungen und Verätzungen, aufgrund des Salzwasser-Benzin-Gemischs, das in den Booten drinsteht. Viele sind auch dehydriert. Sie müssen also mit Flüssigkeit versorgt werden. Das Medic-Team besteht aus vier Personen, zwei aus dem pflegerischen Bereich beziehungsweise aus der Nothilfe, und zwei, die einen ärztlichen Hintergrund haben.“ Thomas Wieland erklärt auch, dass die psychische Belastung „enorm” ist. Trocken schildert er die Situation: „Wenn die Flucht auf einem Seenotrettungsschiff mündet, ist das oft der erste Moment, an dem die Leute durchatmen können. Von ihnen fällt dann eine gewaltige Last ab.“ An Bord wird auch psychologische Unterstützung geboten.

Was macht der Einsatz mit einem?

„Angst hatte ich keine - eher Respekt.” Es war das erste Mal für Thomas Wieland auf so einem Schiff, als er 2019 mit der Sea Watch 3 auf das zentrale Mittelmeer fuhr. „Ich wusste nicht richtig, was mich erwarten würde, darüber hinaus kannte ich noch niemanden.” Die Enge des Schiffs habe ihm nicht viel ausgemacht, allerdings war er in den ersten Tagen seekrank.

Wieland sagt, mit dem Wissen, das Richtige zu tun, sei er mit der Situation gut klargekommen. Aber vermisst habe er seine kleine Tochter: „Wir waren noch nie so lange voneinander getrennt.” Die Atmosphäre auf dem Schiff, zwischen den Crew-Mitgliedern empfand er als sehr freundschaftlich.

Wie geht es danach für die Crew weiter? Ist es schwierig, das Erlebte zu verarbeiten? Es „hat mich sehr beschäftigt und ich tat mich damit in den ersten Wochen ein wenig schwer in den Alltag zurückzukommen”, sagt Wieland dazu. Die Reflexion der Situation mit seinen Freunden und seiner Familie haben Wieland dabei geholfen, mit dem Erlebten umzugehen.

Wie reagiert die italienische Regierung?

Die „Sea Watch 3” ist seit September 2022 von den italienischen Behörden durch eine sogenannte Hafenstaatkontrolle festgesetzt. Dabei wird unter anderem der technische Zustand des Schiffes geprüft. Seit dem Regierungswechsel 2022 hat Italien, mit der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, eine rechtsradikale Regierung. Meloni kündigte an, härter gegen die zivile Seenotrettung vorgehen zu wollen.

Dass ein Schiff von den Behörden festgesetzt wird, ist keine Seltenheit. Oft dauert der Vorgang Monate und die Argumente scheinen zumindest den Aktivisten an den Haaren herbeigezogen. Der Magdeburger war bei so einer Kontrolle dabei: „Dazu mal ein Beispiel. Bei der Kontrolle werden Dinge gefragt wie: 'Warum gibt es kein Fleischmesser in der Küche?' Die ‚Sea Watch 3‘ ist aber ein Schiff, auf dem alle vegan oder Vegetarier sind, da gibt es also kein Fleisch. Im Nachhinein muss er über diese Kontroverse schmunzeln: „Die Vorwürfe sind also fadenscheinig“, meint er.

Aktuell ist einer der Gründe, weshalb das Schiff festgehalten wird, die Prüfung des Abwassersystems. Wieland sagt zu dem Vorgehen der Behörden wenig überrascht: „Natürlich werden Menschen, die sich in der Seenotrettung betätigen, wieder kriminalisiert - und wir sehen das bei den Hafen-Kontrollen. Es gehört einfach zur Strategie der italienischen Regierung, den NGOs so viele Steine wie möglich in den Weg zu räumen. Damit verhindert sie systematisch, dass Menschen in Seenot geholfen wird.“

Wie sieht die Rechtsgrundlage aus?

Menschen aus Seenot zu retten, ist gesetzlich geregelt. Wer auf Personen aufmerksam wird, die sich auf See in Gefahr befinden, ist dazu verpflichtet, diese zu retten. Das besagt unter anderem das internationale Seerecht.

Auch Thomas Wieland weiß das. „Es ist auch nicht nur verpflichtend, Menschen in Seenot zu helfen, sondern auch sie in den nächsten sichereren Hafen zu bringen. Und damit ist sicher nicht Libyen gemeint, das ist um Gottes willen kein sicherer Ort. Im Grunde genommen kommt da eigentlich nur Italien infrage.“ Wieland spricht vom zentralen Mittelmeerraum. Menschen, die über diese Route fliehen, legen oft in Libyen ab.

Es kommt nicht selten vor, dass die Schiffe nach der Rettung nicht sofort einen Hafen anlaufen dürfen. „Bei vielen Rettungen wird die Einreise in einen sicheren Hafen verwehrt. Das muss jetzt nicht so sein wie bei Carola Rackete, aber auch bei der Mission, an der ich beteiligt war, war es so, dass wir eben nicht den nächsten sicheren Hafen ansteuern durften, sondern noch fünf Tage quer übers Mittelmeer geschickt wurden - einmal um Italien herum, um dann einen Hafen zugewiesen zu bekommen.“ Carola Rackete war im Juni 2019 Kapitänin an Bord der „Sea Watch 3” und durfte nach der Rettung 53 Geflüchteter wochenlang nicht in einen Hafen einlaufen.

Welche Kritik wird an der zivilen Seenotrettung geübt?

Nicht nur in Italien gibt es immer wieder Kritik an der zivilen Seenotrettung. Andere europäische Länder schließen sich an. Einer der Streitpunkte ist die unkontrollierte Emigration in die EU-Staaten, ein anderer die sogenannte „Pull-Faktor-Hypothese“. Diese These nutzen häufig Kritiker, um zu beschreiben, dass durch die Rettung auf dem Mittelmeer ein Anreiz geschaffen werde, diese Route zu nutzen. Ist da etwas dran?

Thomas Wieland entgegnet: „Ganz im Gegenteil, es wurden Studien durchgeführt, die besagen, dass da kein Zusammenhang hergestellt werden kann. Und dass an den Tagen, an denen keine NGO auf dem Meer oder in Sichtweite ist, trotzdem nicht weniger, sondern rein statistisch gesehen sogar mehr Bewegung auf dem Meer ist.“

Wieland findet es zu einfach, so die komplexen Migrationsstrukturen zu erklären: „Es wird auch eher gesagt, dass diese Pull-Theorie ein Wunsch ist, die Ursache für Migration zusammen zufassen. Von daher ist das Quatsch.“ Über die Push- und Pull-Faktoren wird immer noch diskutiert, allerdings gelten sie weitgehend als veraltet und widerlegt, das geht auch aus einer wissenschaftlichen Dokumentation für den Bundestags hervor.

Was haben Frontex und Sea Watch miteinander zu tun?

Der Seenotretter sieht ein anderes Problem. Nüchtern erklärt er: „Es ist nun mal so, dass es eine Abschottungspolitik gibt; Stichwort 'Festung Europa'. Es ist politisch nicht gewollt, dass Menschen nach Europa kommen. Die Grenzschutzbehörde Frontex hat den Auftrag, niemanden hineinzulassen und das ziehen die halt auch durch.“

Zuletzt hatte Sea Watch Beweise gegen Frontex gesammelt und zusammen mit „FragdenStaat“ Klage gegen die EU-Grenzschutzagentur erhoben. Der Behörde wird vorgeworfen, sich an illegalen Pushbacks zu beteiligen, die gegen den Artikel 33 (Verbot der Ausweisung und Zurückweisung) der Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen. Frontex wies die Vorwürfe aber zurück und gewann den Prozess.

Wird Wieland noch einmal aufs Meer fahren?

Laut United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) haben allein im Jahr 2022 1.940 Menschen die Überfahrt über das Mittelmeer nicht überlebt oder gelten als vermisst. Geschätzt wird jedoch, dass die Zahl der Toten und Vermissten deutlich höher sein könnte.

2023 möchte Thomas Wieland erneut rausfahren. Am liebsten wäre es ihm, sagt er, wenn diese Arbeit nicht nötig wäre, wenn eine staatliche Seenotrettung organisiert werden würde, die Menschen über legale Wege in die EU gelangen oder sogar in ihren Heimatländern in Frieden leben könnten. Allein die Organisation Sea Watch ist, nach eigenen Angaben, seit ihrer Gründung an der Rettung von über 45.000 Menschen beteiligt gewesen.