Pilz-Saison gestartet Pilz-Saison in Sachsen-Anhalt gestartet

Thalheim - Der Herbstwind lässt die Flügel der Windräder sausen. Aus grauen Wolken fällt seit Stunden feiner Regen. Ein Radfahrer sucht im Brachland bei Thalheim, einem Ortsteil von Wolfen (Anhalt-Bitterfeld), seinen Weg zwischen den Pfützen. Ist das der angekündigte goldene Herbst? Gerhard Niechziol meint: „Ja, das ist nach der langen Trockenheit im August und September einfach wunderbar.“ Ihm macht das nasse und trübe Wetter nichts aus. Im Gegenteil: Er tritt in die Pedale und frohlockt: „Jetzt beginnt die beste Zeit, um Pilze zu sammeln.“
Das klingt sehr optimistisch. Doch der Mann scheint bei dieser Ansage absolut sicher zu sein. Zweifel sind insofern unangebracht, denn wer sonst sollte es besser wissen. Niechziol ist einer von 80 Pilzberatern in Sachsen-Anhalt. Seit mehr als 30 Jahren forscht er in der geheimnisvollen Welt der Pilze. Hunderte Arten kann der Fachmann auf Anhieb zuordnen. Tausende andere anhand diverser Merkmale - teils nach Augenschein, teils unter dem Mikroskop - sicher bestimmen. Die MZ darf ihn bei einer seiner Expeditionen begleiten.
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In diesem Fall spricht der 60-Jährige freilich nur von einem schönen Spaziergang, der vor uns liegt. Dazu bedürfe es keiner langen Anfahrt oder speziellen Vorbereitung. Er sagt es so: „Wozu in die Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nah.“ Deshalb streift der Experte, um seine Freude zu haben und Neues zu entdecken, nur selten durch große Wälder. Dübener Heide, Fläming und Harz sind dem viel beschäftigten Elektro-Ingenieur zu weit entfernt. Aus Zeitgründen liegt Niechziols Revier praktisch vor der Haustür. Und das ist mitten im Chemie-Dreieck, auf plattem Land und im ehemaligen Tagebaugebiet rund um Bitterfeld. Und siehe da: Fast scheint es, als gedeihen hier die Pilze sogar noch besser als anderswo. Jedenfalls bleibt der Korb nicht lange leer.
Das nennt man wohl Pilzriecher. An einem unscheinbaren Graben neben der Thalheimer Flachglasfabrik stoppt Niechziol plötzlich, steigt vom Rad. Zwei Schritte neben der Spur schimmert etwas Weißes. Vorsichtig schiebt er die hohen Gräser beiseite. Zum Vorschein kommt ein ziemlich großer Pilz. Ein Champignon? Der Kenner meint dazu nachsichtig: „Beinahe richtig.“ Ihm zufolge soll es sich um einen Weißen Anis-Champignon handeln.
Pilz-Experte warnt: „Vorsicht, es besteht Verwechslungsgefahr!“
Und tatsächlich, der Prachtkerl mit gewölbtem Hut - Durchmesser 14 Zentimeter - riecht etwas nach Anis. Der Pilz stammt laut Niechziol aus der großen Familie der Champignon-Verwandten. Auch an dieser Stelle steht er nicht allein. Was den Laien dabei natürlich besonders interessiert, ist die quasi amtliche Bestätigung: Ja, es ist ein beliebter Speisepilz! Aber Vorsicht, warnt Niechziol gleich danach. „Es besteht Verwechslungsgefahr, wegen eines berüchtigten Doppelgängers.“ Dieses Gewächs nenne man Karbol-Champignon, es sei zum Erbrechen giftig und ungenießbar. Glücklicherweise warne Mutter Natur vor ihm, so der Pilzberater - mit einem ziemlich üblen Geruch.
Nächster Zwischenhalt: drei Birken am Feldrand bei Sandersdorf. Ob sich hier vielleicht die beliebten essbaren Birkenpilze verstecken? Super, man muss einmal danach suchen. Hellbraune Pilzhüte recken sich beinahe in Reihe. Doch Niechziol winkt gleich ab. Das ist vielleicht eine Enttäuschung. „Kahle Kremplinge, wer die in der Pfanne brät, spielt Russisch Roulette.“ Lange Zeit, vor allem in Notzeiten, habe man sie für essbar gehalten. Giftige Stoffe, so die früher verbreitete Annahme, würden durch die Hitze beim Kochen oder Anbraten zerstört. Das stimme prinzipiell, doch mindestens ebenso gefährlich wie die Giftstoffe seien bestimmte Antigene, die im menschlichen Blutkreislauf unter Umständen tödliche Antikörper entwickelten.
Um aber die Pilzmahlzeit am Abend doch noch zu retten, könnte man noch einen Abstecher in den Wald am Dessauer Heidekrug unternehmen. Irgendwo dort, die genaue Lage will Niechziol nicht verraten, versteckt sich ein Flecken mit goldgelben Pfifferlingen. Nur soviel: „Diese Pilze sind treue Seelen, bleiben ihrem Standort über viele Jahre treu.“ Allerdings geht es ihnen bundesweit längst nicht mehr so gut wie einst. Saurer Regen und hohe Ozonwerte setzen ihnen zu, so dass Pfifferlinge bundesweit einen Schutzstatus besitzen. Indes, im Bitterfelder Raum ist durch die Modernisierung der chemischen Produktion sogar eine Besserung eingetreten. Trotzdem dürfen private Sammler maximal zwei Kilogramm davon mit nach Hause nehmen.
Was einen Pilzexperten in den Bann ziegt, sind jedoch nicht Mengen. Ihn fasziniert vor allem die Vielfalt der Arten. Die Fachgruppe Mykologie Wolfen, die Niechziol seit 1987 leitet, will genau das mit einer jährlichen Ausstellung zeigen. Aber nicht immer meint es Petrus gut mit den Enthusiasten. Im vorigen Herbst ist die Schau ausgefallen - mangels geeigneter Pilze. Anders jetzt Anfang Oktober: 140 verschiedene Arten, so die Ausbeute. Niechziol: „In richtig guten Jahren können wir das Doppelte präsentieren.“
Besonders augenfällig sind immer die Fliegenpilze. Was viele nicht wissen: Die Deckschicht des Hutes ist abziehbar, darunter sieht es tief safrangelb aus. Man kann es als Signalfarbe auffassen, unter anderem für die berauschende Wirkung des Pilzgiftes. Schamanen der sibirischen Völkerschaften sollen darauf schwören, obgleich eine massive Belastung von Darm und Leber nachgewiesen ist. Ab wann es lebensgefährlich wird, ist individuell verschieden. Andere Giftpilze lassen solche Unklarheiten gar nicht aufkommen. Dazu gehört in Mitteldeutschland vor allem der Grüne Knollenblätterpilz. Weniger als 50 Gramm können zum Verhängnis werden. Ohne rechtzeitigen Eingriff kommt es etwa nach zehn Tagen zu Organversagen. Neun von zehn tödlichen Pilzvergiftungen sind auf diesen Killerpilz zurückzuführen. (mz)