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Nach dem Tod der Tochter Nach dem Tod der Tochter: Blaue Nase(n) gegen den Krebs

Von Bärbel Böttcher 10.09.2019, 10:00
Sie sind die treibenden Kräfte im Verein „Blaue Nase hilft“: Roger Altenburg, der Vorsitzende, Katja Hickisch (links), seine Stellvertreterin, und Nadine Hübner, die Schatzmeisterin.
Sie sind die treibenden Kräfte im Verein „Blaue Nase hilft“: Roger Altenburg, der Vorsitzende, Katja Hickisch (links), seine Stellvertreterin, und Nadine Hübner, die Schatzmeisterin. Andreas Stedtler

Magdeburg - „Dass Eltern ihr Kind zu Grabe tragen, das ist das Schlimmste, was passieren kann“, sagt Nadine Hübner. Sie schluckt. „Die Wunde heilt nicht. Wir decken sie jeden Tag zu und können damit mal mehr und mal weniger gut leben. Aber sie bleibt.“ Es ist jetzt anderthalb Jahre her, dass Nadine und Norman Hübner ihr Linchen, wie sie liebevoll genannt wird, an den Krebs verloren haben. Mit einem Jahr, vier Monaten und 15 Tagen.

Alina Michelle leidet an einem aggressiven Hirntumor. Als dieser diagnostiziert wird, ist sie etwa zehn Monate alt. Nadine Hübner muss darum kämpfen, von den Ärzten überhaupt ernst genommen zu werden. Das Baby erbricht oft. Weshalb die Mediziner auf Magen-Darm-Beschwerden tippen. Die Mutter spürt, dass da mehr ist. Die Kleine ist eigentlich lebhaft - so wie ihre Zwillingsschwester Amy Sophie. Nun aber wirkt sie zunehmend apathisch.

Herzstillstand: Gehirn wird bei Operation 45 Minuten nicht mit Sauerstoff versorgt

Die Magdeburgerin beschreibt die Ohnmacht, die die Eltern empfinden, als es dann plötzlich ganz schnell gehen muss und Alina Michelle mit Blaulicht zum MRT gebracht wird. Sie sind dazu verurteilt, vor dem Untersuchungsraum zu warten. „Du kannst nicht zu deinem Kind. Es sind wildfremde Menschen, die sich mit ihm beschäftigen. Und du bist darauf angewiesen, dass ein Arzt kommt und die Brücke schlägt.“

Momente des Grauens seien das, sagt die heute 32-Jährige. Solche Momente erlebt sie nach der niederschmetternden Diagnose noch öfter. Etwa als während einer zwölfstündigen Operation der Tumor aus dem kleinen Babykopf entfernt wird.

Nadine Hübner erzählt, wie sie auf dem Weg zur Intensivstation der Magdeburger Universitätsklinik, wo Alina Michelle betreut wird, manchmal ihre Schritte verlangsamt. Sie hat Angst vor dem, was sie dort erwartet. Hat es in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit wieder Komplikationen gegeben? So wie den Herzstillstand, bei dem das Mädchen um ihr Leben kämpft und noch einmal gewinnt. Bei dem allerdings ihr Gehirn, das schon durch eine Chemotherapie arg belastet ist, 45 Minuten nicht mit Sauerstoff versorgt wird.

Aufgefangen vom „Elternhaus“ am Uniklinikum Magdeburg

Als wäre das nicht schon genug, kann zu diesem Zeitpunkt eine lange geplante Operation der Zwillingsschwester nicht länger aufgeschoben werden. Nun liegen beide Mädchen im Krankenhaus. Nadine und Norman Hübner, die von morgens bis abends in der Klinik sind, gelangen an ihre physischen und psychischen Grenzen.

Aufgefangen werden sie in dieser Situation vom „Elternhaus“ am Uniklinikum Magdeburg. Es wurde 2006 durch den Magdeburger Förderkreis krebskranker Kinder e. V. eröffnet. Dort stehen für Eltern Zimmer bereit, in denen sie während des Klinikaufenthaltes der kleinen Patienten kostenlos wohnen können. Was eine enorme Erleichterung ist. Denn - ist die lebensgefährliche Krankheit diagnostiziert, gerät in den Familien alles aus den Fugen. Zu den Sorgen um das Kind kommen nicht selten finanzielle Probleme. Die Eltern wachen am Bett ihres Kindes. An Arbeit ist nicht zu denken ist.

„Mindestens ein Gehalt bricht weg“, sagt Nadine Hübner. In ihrem Fall ist es das des Mannes. Obwohl sein Arbeitgeber verständnisvoll reagiert. Sie selbst kann sich als Selbstständige in der Klinik an den Rechner setzen. Und Mitarbeiter ermutigen, eigenverantwortlich zu arbeiten.

Krebs: „Es ist eine der schlimmsten Krankheiten, die Alt und Jung betrifft“

Hinzu kommt die soziale Isolation, wenn sich Freunde in ihrer Hilflosigkeit zurückziehen. Im „Elternhaus“ finden die Angehörigen Ruhe, den Austausch mit anderen. Und sie sind in der Nähe ihrer Kinder. Hier kümmern sich Mitarbeiter um die Familien, etwa um die Geschwisterkinder.

Die Hübners verbringen hier einige Wochen. Bis alle zu Hause wieder vereint sind: Die Eltern, Amy Sophie, der es gut geht, und Alina Michelle, für die es keine Hoffnung mehr gibt. Sie wird palliativ betreut. Am 20. Februar 2018 schläft sie friedlich ein.

Das Thema Krebs bei Kindern lässt Nadine Hübner seitdem nicht mehr los. „Es ist für mich eine der schlimmsten Krankheiten, die Alt und Jung betrifft“, sagt sie. „Allerdings ist es bei Kindern ein Tabuthema“, so ihre Erfahrung. Dem will sie etwas entgegensetzen. Und deshalb engagiert sie sich in dem noch jungen Verein „Blaue Nase hilft“. „Wir wollen Aufmerksamkeit dafür schaffen, dass auch Kinder an Krebs erkranken können, zeigen, was das für die Familien, die Geschwisterkinder bedeutet, dass sie sich auf einen langen Weg mit ungewissem Ziel begeben“, sagt sie.

Die Idee, mit der blauen Schaumstoffnase ein sichtbares Zeichen gegen den Krebs bei Kindern zu setzen, hatte ein Mitstreiter des „Elternhauses“. Angelehnt an den Red Nose Day, an dem in Großbritannien rote Schaumstoffnasen zugunsten von Kindern in Not verkauft werden. Ursprünglich will die Initiative, die am 1. Juni dieses Jahres, dem Kindertag, in Magdeburg startet, Öffentlichkeitsarbeit leisten und durch den Verkauf der blauen Nasen Spenden für entsprechende Projekte sammeln. „Das lief so gut, dass alle Beteiligten bald gemerkt haben: Wenn das Ganze nachhaltig sein soll, braucht es eine Struktur. Also haben wir den Verein ins Leben gerufen“, sagt Roger Altenburg, der Vorsitzende.

Hilfe über Magdeburg hinaus

Roger Altenburg, der in Wolmirstedt (Börde) eine Gitarrenschule betreibt und als Showmusiker Programmen für Kinder gestaltet, ist seit langem Botschafter des Magdeburger „Elternhauses“. Macht mit seinen Liedern auf die Situation krebskranker Kinder aufmerksam und sammelt Spenden. „Bis jetzt war ich ein Einzelkämpfer“, sagt er. Doch der Verein sei eine Sache, an die er sich gern anlehne. Dafür nutzt er seine Kontakte. Und so haben sich bereits Prominente wie Sänger Matthias Reim oder die Fußballer von Hertha BSC mit der blauen Nase gezeigt.

Der Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, weit über die Grenzen Magdeburgs hinaus zu helfen. Er will mit dem Spendengeld - zunächst in Sachsen-Anhalt und bald auch in ganz Mitteldeutschland - Stiftungen und Einrichtungen bis hin zur Forschung, die sich dem Thema Krebserkrankungen bei Kindern widmen, unterstützen. Vor allem aber soll betroffenen Familien ihr Los erleichtert werden. In allen denkbaren Lebenslagen. Neben der großen Sorge um das kranke Kind sollen wenigstens finanzielle Probleme so klein wie möglich gehalten werden.

Ein Großteil der derzeitigen Mitglieder des Vereins gehört selbst zu den Betroffenen. So wie Nadine Hübner, die Schatzmeisterin. Dabei braucht sie selbst noch Hilfe einer Trauerbegleiterin. Sie erzählt von Momenten, in denen sie von Emotionen und Ängsten überwältigt wird. Etwa wenn die Zwillingsschwester mal erbricht. „Da wägt man genau ab, fahren wir jetzt in die Klinik? Könnte das ein Tumor sein? Oder ist das normales Kinderverhalten?“, beschreibt sie ihre Empfindungen. Alle Eltern hätten Angst um ihre Kinder. „Aber wir müssen jeden Tag aufs Neue bis an unser Lebensende üben, dass wir Amy Sophie nicht überbehüten, dass wir nicht bei jedem Zipperlein sofort an einen Tumor denken. Das fällt uns unwahrscheinlich schwer.“

Nadine Hübner: „Wir möchten unsere Trauer kanalisieren und etwas Gutes tun“

Alina und Amy sind eineiige Zwillinge. „Und ich sehe jeden Tag zwei“, sagt Nadine Hübner. Jede Mutter, die ein Kind verloren habe, wisse genau: Heute wäre Einschulung. Heute wäre sie 18 Jahre alt geworden ... „Das Mutterherz - und auch das Vaterherz - rechnet immer mit. Ich brauche nicht zu rechnen. Ich sehe 1:1, was ich verpasse.“ Das mache es schwierig.

Doch Nadine Hübner und ihr Mann wollen sich in ihrer Trauer nicht vergraben. „Wir haben trotzdem eine positive Lebenseinstellung. Wir möchten unsere Trauer kanalisieren und etwas Gutes tun“, sagt sie. Das passiert in dem Verein.

Dort wird auch das schwere Thema der Beerdigung nicht ausgespart. Das habe sich im letzten Jahr gewandelt. Dieser Tag werde mit Luftballons, Kuchen und einem Gedenkkaffee begangen. „Einfach, um diesen kleinen großen Menschen zu feiern, ihm Anerkennung für seinen auszehrenden Kampf zu zollen. Und um zu sagen: Klar sind wir traurig, dass du nicht mehr da bist. Aber wir sind stolz, dass es dich gab.“

Kontakt zum Verein:[email protected]

Blaue Nasen - ein sichtbares Zeichen gegen die lebensgefährliche Krankheit
Blaue Nasen - ein sichtbares Zeichen gegen die lebensgefährliche Krankheit
Andreas Stedtler