1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Sachsen-Anhalt
  6. >
  7. Michail Gorbatschow: "Es herrscht Chaos in Russland" - zum Tod des Ex-Präsidenten der ehemaligen Sowjetunion

Zum Tode des Ex-Präsidenten der Sowjetunion Interview mit Michail Gorbatschow: "Es herrscht Chaos in Russland"

Im September des Jahres 2000, also rund zehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, trafen Michail Gorbatschow und Hans-Dietrich Genscher zu Dreharbeiten  in Halle (Saale) aufeinander. Die MZ nutzte die Gelegenheit für ein Interview.

Von Jörg Telemann/MZ Aktualisiert: 31.08.2022, 17:08
Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher und der ehemalige Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow trafen in Halle (Saale) mehrfach aufeinander. Hier im Jahre 2000  
Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher und der ehemalige Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow trafen in Halle (Saale) mehrfach aufeinander. Hier im Jahre 2000   (Foto: Steffen Köhler/mz/archiv)

Halle (Saale)/mz - Knapp zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sind sich an diesem Wochenende im September des Jahres 2000 zwei außenpolitische Wegbereiter der deutschen Einheit wieder begegnet: Der damalige Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow traf den früheren Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zu Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm in Halle (Saale). Die MZ nutzte die Begegnung für ein Interview. Mit Michail Gorbatschow sprach unser damaliger Redakteur Jörg Telemann.

Als Sie auf dem Markt in  Halle ankamen, wurden Sie von einigen Hallensern mit Gorbi-Gorbi-Rufen begrüßt. Was haben Sie empfunden?

Gorbatschow:  Das ist nicht neu für mich. Aber ich freue mich, dass sich die Deutschen immer noch sehr dankbar zeigen für das, was vor zehn Jahren von unserer Seite geschehen ist. Auch wenn wir in der Sowjetunion Fehler gemacht haben, so verstehen die Deutschen, wie schwierig das alles war. Alle Deutschen haben Anteil an unserer Entwicklung genommen, im Westen wie im Osten.

"Hätten wir die DDR als Geisel gehalten, wäre es unweigerlich zur Konfrontation gekommen."

Michail Gorbatschow

Ich muss aber auch sagen, dass ich damals nichts hätte machen können, wenn die Menschen in der Sowjetunion gegen die Einheit gewesen wären, wenn es nicht schon eine Annäherung an die Deutschen und Verständnis für deren Wiedervereinigung gegeben hätte. Hätten wir damals die DDR als Geisel gehalten, wäre es unweigerlich zur Konfrontation gekommen.

Bombenanschläge im Herzen Russlands, die Tragödie des Atom-U-Bootes "Kursk", der brennende Fernsehturm in Moskau -wie würden Sie den Zustand Russlands beschreiben?

Gorbatschow: Das sind alles sehr dramatische Ereignisse. Wir erleben eine eigenartige Krise und werden solche oder ähnliche Probleme weiterhin haben. Präsident Wladimir Putin hat einen sehr schwierigen Nachlass übernommen: Das Land ist halb zerstört. Es herrscht viel Chaos. Gesetze funktionieren nicht, nicht einmal Grundgesetze. Sie werden sogar durch diejenigen verletzt, die eigentlich aufpassen müssten, dass sie eingehalten werden. Putin hat schon viele brennende Fragen angepackt und wird es nicht leicht haben. Denn diejenigen, von denen er Macht übernommen hat, möchten nicht gerne, dass Putin die Dinge schnell und grundlegend ändert.

Welche Probleme hat Putin in Angriff genommen?

Gorbatschow: Er hat beispielsweise Reformen in den Beziehungen zwischen Bundesbehörden und regionalen Behörden angefangen. Und das gefällt vielen nicht. Er hat viele Fronten aufgemacht. Und die Situation im August - die "Kursk"-Tragödie - hat zusätzliche Probleme offenbart. Ich denke: Einerseits wurde der Präsident falsch informiert. Andererseits er hat zu lange darüber gegrübelt.

"Der Präsident wurde falsch informiert."

Michail Gorbatschow

Als es schon klar war, dass der "Kursk"-Untergang eine Katastrophe ist, hat er immer noch über Falschinformationen nachgedacht. Das war ein Fehler. Ich weiß, dass ihn das bedrückt. Ich hoffe, dass er seine Politik in positiver Richtung fortsetzt, dass er sich nicht von den Interessen verschiedener Familienclans beeinflussen lässt, sondern an den Interessen des russischen Volkes orientiert. Denn das hat ihm ein Mandat gegeben.

Da klingt viel Sympathie für Herrn Putin mit. Sind Sie optimistisch, dass er es schafft?

Gorbatschow: Ich war vor der Präsidentschaftswahl für die Kandidatur von Jewgeni Primakow. Aber schon nach der Duma-Wahl im Dezember 1999 zeigte sich, dass bei Primakow die Nerven nicht standhielten. In dieser Situation wurde klar, dass Putin schon in der ersten Runde der Parlamentswahl im März das Rennen machen würde. Das muss man akzeptieren. Ich werde weiterhin meine Meinung zu politischen, sozialen und wirtschaftliche Problemen klar sagen. Dadurch helfe ich Putin, dass er sich auf die Probleme konzentriert - unabhängig davon, wem er irgendwelche Wechsel ausgestellt hat. Und er orientiert sich auch auf die Probleme des Volkes. Aber etwas zu verändern, zu korrigieren, was zehn Jahre lang falsch gemacht wurde - das ist nicht einfach. Putin hat aber einige Qualitäten, die uns erlauben anzunehmen, dass er die Probleme schultern kann.

Welche Qualitäten?

Gorbatschow: Präsident Putin ist gebildet. Er hat große Willenskraft und ist lernfähig. Letzteres ist besonders wichtig, weil er noch wenig Erfahrung hat und deshalb Fehler macht. Außerdem macht er keine Panik und kann schwere Schläge aushalten.

"Putin macht keine Panik und kann schwere Schläge aushalten."

Michail Gorbatschow

Welche Rolle spielt das Militär in Russland?

Gorbatschow: Man darf die Rolle der Armee nicht überschätzen, muss ihr aber angesichts ihrer Schwierigkeiten die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Auf keinen Fall darf man zu einer Riesen-Armee, die mit Waffen übersättigt ist, zurückkehren. Das brauchen wir nicht. Und Putin befasst sich ernsthaft mit einer Reform der Streitkräfte.

Herr Gorbatschow, wenn Sie Präsident wären, was würden Sie tun?

Gorbatschow: Die Geschichte mag keine Konjunktive. Heute ist Putin dran, und man muss sich auf ihn konzentrieren. Ich bin zurzeit mit der Gründung der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Russlands beschäftigt.

Hätten Sie noch einmal Ambitionen auf das Amt?

Gorbatschow: Nein, nein. Nächstes Jahr bin ich 70 Jahre alt, und ich habe nur einen Wunsch: Ich will meine Erfahrungen nutzen, um den Jungen bei der Vereinigung der sozialdemokratischen Parteien zu helfen. Zu einer Partei, die weder zum Extremismus kommunistischer Natur, noch zum liberalen Extremismus neigt.