Linken-Spitzenkandidat Wulf Gallert Linken-Spitzenkandidat Wulf Gallert: Der Oppositions-Klassiker
Magdeburg - Zeit zum Zuhören. Wulf Gallert runzelt die Stirn, faltet die Hände und formt mit den Zeigefingern eine Pistole. Ernste Augen, gerader Rücken: Es ist wieder einer dieser Wahlforum-Abende, an denen der Linken-Chef auf der Bühne das Duell sucht.
Diesmal beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) in Magdeburg, es wird geschimpft und gestritten. Gut für Gallert, denn Schimpfen und Streiten sind seine Paradedisziplinen. Es sind seine Abende, wenn er – der Redner mit der schärfsten Zunge im Landtag – die Konkurrenten mit Rhetorik-Salven zum Tanzen bringt. Doch heute, im Magdeburger Hotel „Ratswaage“, sitzt da ein Spitzenkandidat, den er im Wahlkampf selten ins Visier nehmen kann: Sein Lieblingsfeind, der Ministerpräsident.
Herausforderer und Titelträger
Denn während Gallert kein Podium im Land auslässt, um über Kita-Gebühren, Polizeireform und Beamtensold zu diskutieren, macht sich Regierungschef Reiner Haseloff (CDU) in den Runden rar. Heute sitzt er zum ersten Mal auf einer der Bühnen. Genauer: Er lehnt seit geraumer Zeit in der Sofaecke und stützt den Kopf auf. Gallert dagegen drückt den Rücken durch, ist menschgewordene Aufmerksamkeit. Der Herausforderer und der Titelträger: Ein Hauch von Staatsmann umweht an diesem Abend nur einen der beiden. Der andere freut sich auf den Feierabend.
Eine Momentaufnahme, die viel über Gallert erzählt. Zum Beispiel: Zwar blüht er im Wahlkampf auf wie kein anderer Kandidat, doch egal, was er tut - den Ministerpräsidenten bekommt er trotzdem kaum zu fassen. Und nach allem, was die Umfragen voraussagen, steht Sachsen-Anhalts bekanntester Linker auch nach dieser Wahl mit leeren Händen da. Nach jüngsten Rechnungen reicht es nicht für Rot-Rot-Grün im Land, das Trio kam zuletzt auf 43 Prozent. „Wir kämpfen trotzdem weiter“, sagt Gallert in die Mikrofone. Sein Ziel ist der Posten des Ministerpräsidenten, auf seinen Plakaten steht, frei nach Cäsar: „Ich kann, ich will, ich werde“.
Das Konfrontative zurückstecken
Bereits zum dritten Mal drängt der heute 52-Jährige auf die Regierungsbank, schon 2006 und 2011 war er Spitzenkandidat. Lange Zeit galt er als bundesweit einziger Linker, für den ein Ministerpräsidentenamt in greifbarer Nähe lag. Doch 2011 versagte ihm die SPD die Koalition. Dieses Jahr hält sich SPD-Chefin Katrin Budde zwar offiziell alle Optionen offen - dafür sind es nun die nackten Zahlen, die wenig Hoffnung machen, dass es rechnerisch für einen Regierungswechsel reichen wird. Mittlerweile hat sich Bodo Ramelow in Thüringen seinen Platz als erster linker Ministerpräsident im BRD-Geschichtsbuch gesichert - seitdem hängen Gallert die Vergleiche zum acht Jahre älteren Regierungschef aus dem Nachbarland wie Kletten am Hemd.
Um auch in Sachsen-Anhalt den vielbeschworenen „Richtungswechsel“ zu schaffen, schlägt Gallert im dritten Anlauf auf das Ministerpräsidenten-Amt neue Töne an. „Wulf, nimm dich mal zurück in deiner Lautstärke und Tonalität“, rieten ihm Parteifreunde im Vorfeld. „Tatsächlich mache ich das anders als noch vor fünf Jahren“, sagt der 52-Jährige, „ich habe das Konfrontative aus meinen Auftritten rausgenommen“. Das, was er beim DGB verspreche, müsse er auch bei der Industrie- und Handelskammer wiederholen können. Der Linke sagt, es sei eines der Ziele dieses Wahlkampfes, stärker auf die Unternehmer im Land einzugehen.
Soko "Stinkefinger"
Gallert, seit 1994 im Landtag und seit 2004 Fraktionschef, kennt die vielen Tonarten des Wahlkampfes. Er kann gefühlvoll: Dem Wählervolk auf der Straße hört er zu, brummt tief, nimmt sich zurück. Oder kontrovers: Mit dem vieldiskutierten Wahlplakat des „Frauenverstehers“ schaffte es Gallert in die bundesweite Presse und zu TV-Talker Markus Lanz; ein grandioser Marketing-Coup. Und schließlich mag er es immer noch bissig: Als Polizisten im sächsischen Clausnitz unter Applaus eines Mobs ein Flüchtlingskind gewaltsam aus dem Bus holen, fragt Gallert öffentlich via Twitter, ob die Polizei wegen des Jungens schon eine Soko „Stinkefinger“ gebildet habe.
Nach über 20 Jahren Opposition im Landtag weiß der Lehrer aus Havelberg (Kreis Stendal), wie er Wirkungstreffer beim politischen Gegner setzt. Das beweist er reihenweise im Landtag, wo er sich nach Belieben in Diskussionen einklinkt. Thema egal, Gallert-Rhetorik tut weh.
Clevere Tricks
Beim DGB-Wahlkampfforum in Magdeburg überrumpelt er Konkurrenten, indem er ihnen alte Zeitungs-Interviews wie belastende Beweisstücke vorhält - scheinbar aus dem Stegreif. Beim Thema „Gerechte Bezahlung“ sagt Ministerpräsident Haseloff, er könne alle Forderungen des Gewerkschaftsbundes unterschreiben - selbstverständlich soll es faire Löhne im Land geben. Nun schlägt Gallerts Stunde: „Das wundert mich jetzt, dass der Ministerpräsident das alles unterschreiben will.“ Und zitiert gnadenlos aus einem Interview des vergangenen Herbstes, in dem sich Haseloff dafür ausgesprochen hatte, Mindestlohn-Ausnahmen für Flüchtlinge zu finden. Gallert wartet auf diese Gelegenheiten, vollstreckt eiskalt. „Die Leute dürfen keine Angst haben, an ihrem Arbeitsplatz von Flüchtlingen ersetzt zu werden, die nur fünf Euro bekommen.“ Gallert, der Stratege, legt sich die Konkurrenz zurecht. Einen Ruf als gewiefter Taktiker baute er sich zudem seit 1994 auf: Als parlamentarischer Geschäftsführer der PDS organisierte er zusammen mit Duz-Freund Jens Bullerjahn (SPD) die Minderheitsregierung der Sozialdemokraten.
Gallert, der Oppositionsführer. Spätestens seit 2004 führte der Wahl-Magdeburger durchweg ein politisches Leben mit einer Richtung: dagegen. Kritiker fragen, ob er nach mehr als zwei Jahrzehnten Opposition überhaupt noch den Schalter zum Staatsmann umlegen kann.
„Das ist das einzige Mal, dass ich selbst den Vergleich zu Bodo Ramelow heranziehe“, sagt Gallert. „Wenn Sie den vor seiner Zeit als Ministerpräsidenten gesehen haben, dann haben Sie einen Oppositionspolitiker erlebt, gegen den war ich bisher ausgesprochen zurückhaltend und staatsmännisch.“
Stagnation bei den Linken?
Gallert will mit dem Pfund wuchern, dass er schon während der Tolerierungszeit Mehrheiten beschaffte - in Magdeburg gilt er als jemand, mit dem belastbare Absprachen getroffen werden können. Doch ausgerechnet sein Kumpel Jens Bullerjahn, der amtierende Finanzminister, warf dem Linken in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder vor, nur noch zu meckern und kaum noch eigene Konzepte einzubringen - es ging um den umstrittenen Sparkurs der CDU-SPD-Regierung. Gallert lässt den Vorwurf in diesen Wochen an sich abperlen.
Dabei flackerte die Frage, ob die Linken unter Gallerts Führung seit der Wahl-Enttäuschung 2011 nicht doch irgendwie stagnierten, auch intern immer wieder auf. Am deutlichsten wurde dies, als Gallert im Jahr 2012 versuchte, den Fraktionsvorstand per Personalrochade zu verjüngen - und eine junge Garde um sich zu scharren, zu der etwa die heute 39-jährigen Abgeordneten Eva von Angern und Hendrik Lange zählen sollten. Gallert scheiterte am Willen der alten Recken, die ihre Plätze nicht räumen wollten - bitter für den Fraktionschef. Zumal kurz zuvor die frustrierte Schulexpertin Edwina Koch-Kupfer aus der Linken-Fraktion ausgerechnet zur CDU gewechselt war. Nicht zuletzt wegen Gallerts Führungsstil.
Gallert bleibt Gallert
Das Thema zog sich durch die gesamte Legislatur. Gallert schaffte es nicht, den Laden zu ordnen und interne Streits vor dem Ausbruch zu schlichten. 2014 sprach er selbst von einem „verheerenden“ Bild, das die Fraktion nach außen abgebe - und bestellte eine Mediator für die Abgeordneten.
Der Lehrersohn Wulf Gallert wird 1963 in Havelberg (Kreis Stendal) geboren. In dem politischen Elternhaus wird der Grundstein für seine Karriere gelegt: 1986 tritt er in die SED ein, ab 1990 ist er Mitglied des PDS-Landesvorstands. Mittlerweile selbst Lehrer, wird der damals 31-Jährige 1994 erstmals in den Landtag gewählt - und ist sofort parlamentarischer Geschäftsführer der PDS-Fraktion. In dieser Rolle agiert er als Mitorganisator der Tolerierung der SPD-Minderheitsregierung.
Zehn Jahre später steigt er zum Chef der Linken im Landtag auf, wird Vorsitzender der Fraktion. Der Familienmensch Gallert ist mit einer Professorin verheiratet und hat zwei Söhne. Wenn er mehr Freizeit hätte, würde sich der Krimi- und Geschichtsfan häufiger der Literatur widmen. Er hat eine Schwäche für gute Restaurants und schottischen Whiskey.
Nun, in den Tagen vor der Wahl, gibt er selbst den ausgleichenden Linken in Premier-Pose. Nach dem DGB-Forum sagt er bei Ochsenschwanzsuppe und Schwarzbier, es sei „unzufriedenstellend“, dass die SPD im Land sich nicht klar zu einer Zusammenarbeit mit den Linken bekenne. „Das Rot-Rot-Grüne Projekt wird nicht so vorangetrieben, wie es nötig wäre.“ Unter einem Regierungschef Gallert, versteht sich. Zum Spitzenkandidaten nominierten ihn die Linken einstimmig - in Dessau-Roßlau, im Beisein des historischen Vorbilds Bodo Ramelow. Dem Mann, der sich anstelle Gallerts als erster Linker in einem Land die Krone aufsetzte. „Es musste jemand wie Ramelow kommen, der als erster linker Ministerpräsident auftrumpft“, sagt Gallert heute. „Jemand, der aus dem Westen kommt, Protestant ist und eine Vita hat, die vielem widerspricht, was man in unserer Partei vermutet.“ Gallert hingegen bleibt Gallert. Ein Klassiker unter den ostdeutschen Linken.
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