Ihr seid doch auch groß geworden! Ihr seid doch auch groß geworden!: Warum Eltern heute vieles anders machen als früher

Halle (Saale) - Als meine Tochter etwa drei Monate alt war, kam an einem Samstag einmal Schwiegermutter zu Besuch. Wir wollten kurz in den Supermarkt etwas einkaufen gehen und sie fragte: „Nehmt ihr die Kleine mit oder bleibt sie hier in der Wiege?“
Das Kind alleine in der Wohnung lassen? Selbst wenn es nur für ein paar Minuten sein sollte - das ist für mich unvorstellbar. Für meine Schwiegermutter war es normal.
Kinder kurz alleine lassen war früher normal - und heute?
In den 80er Jahren in der DDR sei man da eben mal rausgegangen oder habe das Kind vor der Tür des Ladens im Wagen geparkt.
Natürlich spielt bei dieser Frage auch immer die Entwicklung der Kriminalstatistik eine Rolle, aber vor allem ein ganz persönliches Gefühl.
Viele Dinge machen Eltern heute anders, als sie es aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Wenn meine Mutter mir mal wieder erzählt, dass sie früher Honig an meinen Schnuller geschmiert hat, damit ich ihn nehme, und ich aufschreie: „Schnuller? Und auch noch mit Honig im ersten Jahr?“, sagt sie: „Ihr seid doch auch groß geworden.“
Warum machen Eltern vieles anders als ihre Eltern?
Und Recht hat sie. Doch warum machen Eltern heute trotzdem so viel anders als ihre Eltern?
Einer, der es wissen muss, ist Remo Largo, Schweizer Kinderarzt und Autor der Bestseller „Babyjahre“ oder „Kinderjahre“. „Der größte Unterschied ist, dass das Kind heute zu einem Projekt geworden ist“, sagt er.
Es gibt meist nur noch ein Kind - da soll alles passen
80 Prozent der Kinder seien heute Wunschkinder. In vielen Familien gebe es nur noch eines. „Dieses Kind muss ein Erfolg werden.“ Die Erziehung sei deshalb auf Leistung ausgerichtet.
Darauf, genau zu wissen, was gut für das Kind ist und wie es sich zu entwickeln hat. Dafür werden Ratgeber gewälzt. Oder einfach gegoogelt.
Zugang zu Meinungen und Infos ist heute grenzenlos
Denn anders als früher haben Eltern heute Zugang zu beliebig vielen Meinungen zu den unterschiedlichsten Themen.
Bekommt mein Baby Wegwerfwindeln, Stoffwindeln oder setze ich gar von auf windelfrei? Wann fange ich mit dem Brei an? Oder doch lieber gleich Baby led weaning, also weich gekochte Stückchen von Anfang an?
Sind alle empfohlenen Impfungen sinnvoll oder lasse ich welche weg? Schläft mein Kind im Familienbett, im Beistellbett oder im eigenen? Und wann beginne ich mit dem Töpfchen?
Früher wurde vieles noch nicht hinterfragt
All diese Fragen stellten sich noch bis in die 80er Jahre kaum. „Früher war vieles einfach so“, erzählt Heike Stenschke. Die 51-Jährige ist Leiterin der Kita Rotkäppchen in Zörbig, Deutschlands ältester Kindertagesstätte.
Seit 32 Jahren ist sie im Beruf, früher als Erzieherin, seit sechs Jahren als Leiterin. Sie kennt die Unterschiede im Verhalten der Eltern. Zugänglicher seien sie früher gewesen.
Über Auffälligkeiten im Verhalten konnte gesprochen werden. „Heute sieht jedes Elternteil sein Kind als Prinz oder Prinzessin, wie unter einer großen Glocke.“
In der DDR schrieben Pläne viele Details vor
Zu DDR-Zeiten war im Bildungs- und Erziehungsplan vorgeschrieben, was in der Kita gemacht wurde. Begrüßung, Morgensport, Beschäftigung, Aufenthalt im Freien.
Verschiedene Konzepte gab es nicht und damit auch nicht die Herausforderung, das beste für den eigenen Nachwuchs herauszusuchen. „Vieles wurde den Eltern abgenommen“, sagt Heike Stenschke.
Die Kinder trugen Stoffwindeln, die regelmäßig abgekocht wurden. Natürlich gab es Brei. Wer das nicht mochte, bekam eben Butter-Schnitte. Einen Namen für diese Ernährungsform gab es nicht. Geimpft wurde, was vorgeschrieben war.
Kita oder nicht war in der DDR keine Frage
Und ob das Kind im eigenen Bett oder bei den Eltern schläft war Gefühlssache. Das Töpfchentraining gehörte schon vor der Krippenzeit dazu. Und dass es überhaupt in Krippe oder Kindergarten ging, war zumindest zu DDR-Zeiten klar.
Die Frage, nach welchem Modell die Eingewöhnung in der Einrichtung vorgenommen wird, war irrelevant. Denn eine Eingewöhnung gab es nicht. Ratgeber-Bücher, in denen Experten Tipps geben und die heute in jedes Eltern-Bücherregal gehören, oder Blogs mit Selbsterfahrungsberichten sind auch neu.
Familienverbünde fallen weg - Erfahrung mit Kindern fehlt
„Heutige Eltern haben oft keine Erfahrung mit anderen Kindern gesammelt“, erklärt Remo Largo. Noch in den 50er Jahren habe man in größeren Familienverbünden gelebt, die Kinder hatten Geschwister, um die sie sich kümmern mussten.
„Was die Eltern heute brauchen, sind Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung und Verständnis dafür.“ Was Largo meint: Nicht jedes Kind wird Starpianist oder Spitzensportler. Unter diesem Druck könnten sich die Kleinen nicht normal entwickeln.
Natürlich überlege ich als Mutter heute, welche Förderung zu meinem Kind passt: Als Baby ein Eltern-Kind-Kurs und Babyschwimmen, danach Kleinkindmusik. Oder doch lieber turnen?
Eltern wollen heute viel mehr kontrollieren
Als ich klein war, haben wir draußen gespielt, im Wald Buden gebaut oder sind mit dem Schlitten die Straße runter. Und Dreck gegessen haben wir auch. „Dreck reinigt den Magen“, hat meine Mutter gesagt.
Auch Heike Stenschke hat bemerkt, dass Eltern heute vieles kontrollieren wollen. „Früher waren die Kinder selbstständiger. Heute geht alles nur noch mit Eltern.“
Und gehorcht hätten die Kleinen früher auch besser. Heute hätten die Eltern kaum Zeit. „Deshalb sagen die Kinder oft, wo es lang geht.“
Erziehung basiert heute nicht mehr auf Bestrafung
Auch Remo Largo bestätigt das in gewisser Weise, findet es aber positiv. Noch bis in die 60er Jahre hinein beruhte die Erziehung vor allem auf Gehorsam und Bestrafung.
„Man ging davon aus, dass Kinder schlecht auf die Welt kommen und besser gemacht werden müssen.“ Heute gehe man davon aus, dass sie gut sind und wir schauen müssen, dass sie nicht schlechter werden.
Oft mangele es aber tatsächlich an der Zeit, eine enge Beziehung aufzubauen. „Je besser die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist, desto eher gehorcht das Kind.“
Leistung des Kindes zählt heute deutlich mehr
Aber zu oft geht es nur um Leistung. Diesen Wettbewerb habe es früher nicht gegeben, sagt Heike Stenschke. „Man hatte ein Gemeinschaftsgefühl, hat nicht verglichen.“
Meine Tochter ist statistisch gesehen zu klein, zu leicht und sie läuft noch nicht. Früher hätte das vielleicht keinen interessiert. Heute kenne ich gefühlt nur noch andere Kinder in ihrem Alter, die größer sind und schon laufen.
Zumindest sehe ich nur die. „Das wächst sich schon aus“, sagt die heutige Oma. Wenn ich doch nur nicht gegoogelt hätte, dann hätte ich vielleicht auch diese Gelassenheit. (mz)
