Torten mit Tradition Café Wiecker in Wernigerode: Ältestes Familienunternehmen in Sachsen-Anhalt

Wernigerode - Es waren dunkle Zeiten, als diese süße Tradition das Licht der Welt erblickte: In Deutschland wütete gerade der Dreißigjährige Krieg als Weißbäckermeister Carl Friedrich Wiecker in Wernigerode (Harz) seinen kleinen Laden in der Nöschenröder Straße eröffnete.
Das Geschäft ging gut, so konnte er das Konditoren- und Bäckerhandwerk vererben, an seinen Sohn, wie es die Tradition gebot. So ging es immer weiter, von Vater zu Sohn, von Generation zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert. Die Familie und ihre Gewerbe überstanden alles, Elend und Kriege - und hatte überdies das Glück, immer einen Sohn zu haben, der das Familienunternehmen weiterführen konnte. Bis heute.
Michael Wiecker, der Inhaber des „Café Wiecker“, ist der jüngste Spross der Bäckerdynastie und kann auf eine 382 Jahre alte Familientradition im Bäcker- und Konditorenhandwerk zurückblicken, die Anfang der 80er Jahre an den heute 54-Jährigen weitergegeben wurde. Er führt das älteste Familienunternehmen Sachsen-Anhalts.
Der große, stämmige Mann mit den hellblauen Augen sitzt in seinem modern eingerichteten Café direkt am Wernigeröder Marktplatz. Von dort aus hat man einen wunderbaren Blick auf das historische Rathaus. Auf einem Tisch hat Wiecker seine Erbstücke ausgebreitet.
Vorsichtig, aber auch etwas aufgeregt, wühlt er in seinen Schätzen. Zwischen alten Fotos seiner Vorfahren liegen alte Rezeptbücher und mehr als 200 Jahre alte Modellierungswerkzeuge aus Elfenbein. Er blättert in dem alten Rezeptbuch von 1797. Die Seiten sind stark vergilbt, einige haben sich schon vom Einband gelöst. In einer säuberlichen Schreibschrift hat einer seiner Ahnen Rezepte für die Ewigkeit festgehalten. Rezepte, die Michael Wiecker auch heute noch bäckt.
So liegen in der großen und hellbeleuchteten Kuchentheke Ochsenaugen, Walnusstörtchen und Mandelflorentinergebäck, die schon so nach dem Rezept von Wieckers Vorfahren gefertigt wurden. Daneben stehen bunte Desserts und Torten mit Schokolade und exotischen Früchten. Steht man an der Theke, riecht es herrlich nach warmer Schokolade. Folgt man dem Geruch, führt der Weg in die Backstuben des Cafés. Konditorinnen füllen hier gerade ein Kokosmousse in selbstgegossene Schokoladenformen.
Café Wiecker in Wernigerode: Ältester Familienbetrieb in Sachsen-Anhalt
In dem Wirrwarr aus Erbstücken, die auf dem Tisch verstreut sind, liegt auch eine alte Aufnahme eines Schaufensters aus dem Jahr 1933. „Das ist ein Bild der alten Bäckerei und Konditorei in der Nöschenröder Straße in Wernigerode“, erzählt Wiecker. „Schon am Schaufenster sieht man, dass es damals aber mehr eine Bäckerei als Konditorei war“, fügt er hinzu.
Damals prangten auf dem Fensterglas „297 Jahre Familienbesitz“. Dass sich die Tradition so lange in der Familie halten würde, hat Carl Friedrich Wiecker, als er 1636 die Arbeit als Weißbäckermeister in dem kleinen Laden aufnahm, wohl nicht geahnt.
Persönliches weiß Michael Wiecker über seine Vorfahren nicht. „Damals hat man aber nicht jeden Tag gebacken, sondern nur, wenn die Zutaten da waren.“ Viele Kunden konnten nicht gleich bezahlen, ließen anschreiben und bezahlten am Ende des Monats mit Naturalien.
Seine Familie war, so weiß er, in Wernigerode sehr angesehen. „Sie waren der Lieferant für den Fürsten zu Stolberg im Schloss Wernigerode.“ Bis 1983 war der Laden in der Nöschenröder Straße in Familienbesitz. Nach dem Tod des Großvaters wurde das Haus samt der Bäckerei verkauft.
Jedes Mal, wenn Michal Wiecker an dem ehemaligen Wohnort seiner Großeltern vorbei fährt, weckt das Fachwerkhaus mit den grünen Balken in ihm Kindheitserinnerungen. „Meine Großeltern waren fast nie im Wohnzimmer, gekocht, gegessen und gelebt wurde in der Ladenstube neben dem Verkaufsraum.“
An der Fassade des Hauses, in dem Generationen seiner Familie lebten und in dem er einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hat, sind heute noch Überbleibsel der Geschichte zu sehen. „Da oben“, sagt er, „sieht man noch die Vorrichtung, an der man das Mehl an einem Seil hochgezogen hat.“ Auch das Schaufenster gibt es noch.
Heute hängt dort aber nicht mehr der Name Wiecker, sondern eine Gardine. Denn eine Bäckerei ist es schon lange nicht mehr. „Wir haben das Haus an eine Familie verkauft, die nun dort wohnt.“ Im Nachhinein die richtige Entscheidung, wie Wiecker findet. „Früher war das hier eine belebte Straße, jetzt fahren hier nur noch Autos durch.“ Zu DDR-Zeiten, erzählt Wiecker, gab es hier Fleischer, Bäcker und Möbelgeschäfte. „Doch fast alle haben aufgegeben. Wären wir hier geblieben, hätte uns das gleiche Schicksal ereilt“, sagt er und hält inne.
Auch sein Vater Hans Friedrich Wilhelm Wiecker arbeitete zwischen 1974 und 1976 bei dem Großvater in der Nöschenröder Straße, bevor er sich mit seiner eigenen Bäckerei selbstständig machte. 1981 wagte er einen ganz neuen Weg. Er eröffnete in einer leerstehenden Apotheke das Café mit hauseigener Konditorei.
Michael Wiecker, der abseits der Familientradition zu DDR-Zeiten eine Ausbildung zum Koch in einem Hotel in Schierke abschloss, wollte eigentlich in die Hotelleitung wechseln. In die Fußstapfen seines Vaters zu treten, und sich damit der Familientradition anzuschließen, war für ihn keine Option.
„Meine Eltern haben Brot und Brötchen in Massenproduktion gefertigt, oft nachts gearbeitet“, erinnert er sich. Der Ofen musste mit Kohle beheizt werden. Doch die musste draußen erst mal von der Straße geschaufelt und reingetragen werden. „So etwas wollte ich nicht machen“, sagt Wiecker.
Als sein Vater ihm von der Idee des Cafés erzählte, war Michael Wiecker dann doch bereit, die Familientradition weiterzuführen. Er machte bei seinem Vater eine Ausbildung zum Konditor und anschließend seinen Meister.
Das Café am Marktplatz war ganz anders als das bisherige Traditionsgeschäft der Wieckers. Es gab keine Brötchen oder Brote mehr, sondern Kuchen, Torten, Pralinen und Eis. Auch Pizza stand auf der Karte. „Das war schon eine Besonderheit für diese Zeit“, sagt Michael Wiecker. Und er bewahrte die Tradition. „Wir haben noch immer Stammkunden von damals, die extra deswegen zu uns kommen.“
Café Wiecker: Vater bildete den Sohn in Wernigerode aus
Nach der Wende erweiterten sie ihre Karte um Frühstück mit Brötchen und Croissants aus der eigenen Backstube. Dazu gibt es selbst gemachte Marmelade und Schokoaufstrich aus regionalen Früchten und Nüssen.
Zusammen mit dem Schloss-Café in der ehemaligen Garderobe der Fürstin Anna zu Stolberg beschäftigt Wiecker 20 Mitarbeiter und zehn Auszubildende. Auch Michael Wiecker wurde im eigenen Betrieb ausgebildet, von seinem „Papa“. Jedes Jahr an Weihnachten stehen der Sohn und sein 84-jährige Vater noch zusammen in der Backstube und bereiten ihre traditionellen Plätzchen zu. „Alles geht dann Hand in Hand, da merkt man, dass wir noch immer ein eingespieltes Team sind.“
Michael Wiecker hat mit seinen historischen Rezepten und dem 382 Jahre altem Bäcker- und Konditorenhandwerk den Schritt von der Tradition in die Moderne geschafft. Der Unternehmer erweiterte sein Café mit Catering, organisiert Großveranstaltungen wie Sachsen-Anhalts größtes Oktoberfest in Wernigerode oder das Public Viewing zur diesjährigen Fußball-WM. Auch ein Schokoladen-Festival hat er ins Leben gerufen.
Jedes Jahr ist der Landesinnungsmeister der Konditoren Sachsen Anhalt und Vizepräsident des Deutschen Konditorenbundes außerdem mit einem Stand auf der Grünen Woche in Berlin vertreten. Stolz zeigt er auf seinem Handy ein Foto mit Angela Merkel, das während des Sommerfestes der Bundeskanzlerin vor vier Jahren entstanden ist. Wiecker hatte für sie damals eine Torte in der Form Deutschlands gebacken.
Auf dem Tisch in seinem Café am Marktplatz liegt eine alte Chronik über Bäckereien in Wernigerode. Ein gebrechlicher Mann, ein alter Bäckermeister, mit einem Krückstock kam eines Tages in sein Café, erinnert sich Michael Wiecker. Er überreichte ihm einen Hefter mit gesammelten Informationen, darin war sogar ein Innungsbrief von 1393.
Er hatte niemanden, der seine Tradition weiterführen konnte und wollte seine Sammlung vor seinem Tod an jemanden vermachen. Auch Michael Wiecker will sein Café irgendwann an die nächste Generation übergeben. Einen Sohn hat er nicht, dafür zwei Töchter. „Meine älteste ist aber selbstständige Hebamme geworden, das war ihr Traum“, sagt er.
Nun legt der 54-Jährige alle Hoffnung in seine erst zweijährige Tochter Anna, eines Tages das Familienunternehmen weiterzuführen. Dann wäre der Traditionsbetrieb endgültig in der Moderne angekommen: Wenn die Tradition weitergegeben wird vom Vater an die Tochter. (mz)