Retter von Altenberg Retter von Altenberg: Er verhinderte eine der größten Blamagen der DDR-Sportgeschichte

Leipzig - Am vergangenen Wochenende war Udo Gurgel wieder dabei. Als sich die Rennrodler im Schneechaos von Altenberg (Sachsen) in den Eiskanal stürzten, schaute auch der 80-Jährige den Spitzensportlern zu. Zwar stand der Ingenieur, der seit langem in Leipzig lebt, nicht am Rand der weißen Rennbahn.
„Doch im Fernsehen sehe ich mir den Bob- und Rodel-Weltcup fast immer an“, sagt Gurgel. Dabei hat er nicht allein die waghalsigen Athleten im Blick, die in der eisigen Rinne weit über 100 Kilometer pro Stunde schnell werden. Gurgel bestaunt auch seine eigenen Werke.
Udo Gurgel am Bau von 23.000 Metern Eiskanal beteiligt
Denn es gibt kaum einen Eiskanal auf der Welt, an dem er nicht schon einmal Hand angelegt hat. Von den elf Olympiabahnen, die derzeit noch von Rodlern und Bobfahrern genutzt werden, hat Gurgel allein sechs entworfen. An vielen weiteren war er im Zuge von Umbaumaßnahmen beteiligt. Insgesamt gehen 23.000 Meter Eiskanal auf sein Konto.
Wie es dazu kam? „Ich bin da so reingerutscht“, sagt Gurgel. Denn zu Beginn seiner Ingenieurkarriere war an die frostigen Fahrrinnen noch nicht zu denken. Nach dem Studium in Weimar arbeitete Gurgel 1966 bei einem Bauunternehmen in Leipzig. „Damals bekam man als Berufsanfänger 600 Mark im Monat“, erzählt er.
Ein schmales Gehalt, doch Aufbesserung war in Sicht: Denn das neu gegründete Wissenschaftlich-technische Zentrum Sportbauten (WTZ) suchte Nachwuchskräfte für den Aufbau der Sport-Infrastruktur in der DDR - und lockte mit einigen Mark mehr Lohn.
Revolutionäres Computerprogramm zu DDR-Zeiten
Gurgel schlidderte gleich in eines der Prestigeprojekte des sozialistischen Staates. Nachdem die BRD mit dem Bau der ersten Kunsteisbahn in Königssee (Bayern) Maßstäbe gesetzt hatte, wollte der ambitionierte Osten nachziehen. Ab 1968 wurde deswegen im thüringischen Oberhof eine Rennschlittenbahn gebaut: ebenso mit Kunsteis und noch dazu komplett am Computer entworfen. „Das Programm dafür wurde damals von unserem Team entwickelt“, sagt Gurgel. Eine Weltneuheit sei das gewesen.
Oberhof wird 1970 eröffnet - und reicht bald den Ansprüchen der Staatsoberen nicht mehr. Denn durch den Kanal in Thüringen passte maximal ein Zweierbob. Für den ebenso olympischen Vierer ist nicht genug Platz. „Wir hatten das beim Bau schon angemerkt“, sagt Gurgel. Damals allerdings habe Bob noch als „elitärer“ Sport gegolten, der nur von einem kleinen Kreis betrieben wird. Dem Massenvergnügen Rodeln konnte man in der DDR mehr abgewinnen.
Allerdings machte der Erfolg den Bob salonfähig. Nach dem Sensations-Doppelgold im Zweier- und Vierer-Bob von Ost-Pilot Meinhard Nehmer 1976 in Innsbruck (Österreich) wuchs das Verlangen nach einer professionellen Wettkampfstätte.
Höchste Stufe der Geheimhaltung: BRD sollte vom Bau in Altenberg nichts mitbekommen
Hinzu kam wohl auch ein interner Zwist. Oberhof gehörte zur Sportabteilung der Armee. Die Erfolge, die die Athleten von dort feierten, weckten Begehrlichkeiten. So hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Stasi-Chef Erich Mielke auch für seine Sportvereinigung Dynamo einen eigenen Eiskanal haben wollte - und diesen dann auch bauen ließ.
Das Großprojekt wurde allerdings zu einer der größten Blamagen der DDR-Sportgeschichte. „Und das lag zu einem guten Teil an der Geheimhaltung, die für den Bau verfügt wurde“, meint Udo Gurgel. Die BRD sollte von der Bahn nichts mitbekommen.
An dieser Vorgabe scheiterte auch ein möglicher Standort des neuen Rennkanals in Wernigerode (Harz), denn dort war der Westen zu nah. Deswegen verzog man sich mit dem Neubau ins sächsische Hinterland, wo nahe Altenberg ein Hang gefunden wurde.
Die Arbeiten begannen 1980. Tausende Bäume wurden gefällt. Den Grund dafür erfuhr selbst die Bevölkerung vor Ort nicht. Es wurde getuschelt, sogar von einen Raketenabschussbasis war die Rede. Dazu passte, dass fast ausschließlich Soldaten am Bau der Bahn beteiligt waren. Das damalige Versteckspiel setzte sich auch beim WTZ Sportbauten fort. Nur ein kleines Team war in die Errichtung der Anlage involviert - Gurgel gehörte nicht dazu. „Protokolle und Skizzen waren absolute Verschlusssache“, erinnert er sich.
Reihenweise Unfälle bei ersten Tests des Rennkanals in Altenberg
Die Geheimniskrämerei hatte fatale Folgen. Denn Unterlagen, die niemandem gezeigt wurden, konnte auch niemand überprüfen. Am Ende sei es wohl ein einzelner Ingenieur gewesen, der die Bahn berechnete, sagt Gurgel. Und dieser habe sich wahrscheinlich gründlich verrechnet. Denn bei den ersten Tests des Rennkanals mit richtigen Athleten gab es reihenweise Unfälle. Das vernichtende Fazit: Altenberg ist unbefahrbar.
Schon damals waren über 100 Millionen DDR-Mark in den Rennkanal geflossen. Auch deswegen war es ausgeschlossen, ihn auf Eis zu legen. Ein neues Team musste die Mängel beheben - auch Udo Gurgel war nun dabei. Die komplette Bahn wurde neu berechnet, wieder kam das Computerprogramm von Oberhof zum Einsatz. „Wir fanden damit einen neuen Streckenverlauf, der machbar war“, sagt Gurgel. Allerdings musste einiges umgebaut und Kurven sogar gesprengt werden. 1987 war Altenberg dann befahrbar. Bis heute gilt der Kurs als schwierigster weltweit.
Die Rettungstat von Gurgel und Kollegen blieb nicht unbemerkt. Die Blamage wurde für sie zum Durchbruch. Denn der Bau von Bob- und Rodelbahnen ist eine höchst spezielle Disziplin. Experten gibt es nur wenige. „Wir waren plötzlich sehr gefragt“, sagt Gurgel. Sie bekommen den Auftrag für eine Bahn in Lettland. Und dann sollen sie auch die Olympiastrecke für 1988 im kanadischen Calgary bauen - ein westliches Land greift auf die DDR-Ingenieure zurück. Eine kleine Sensation.
Tragödie in Kanada: Georgischer Rodler stirbt auf Olympiastrecke
Und die Erfolgsgeschichte geht auch nach der Wende weiter. Mit seinen Kollegen gründet Udo Gurgel ein eigenes Büro. Für die sechs Olympischen Winterspiele von 1994 bis 2014 entwerfen sie jeweils die Bob- und Rodelbahn.
Dabei probieren sie, die Balance zu finden zwischen einer spektakulären Strecke, die aber trotzdem nicht zu gefährlich für die Sportler ist. Wie schmal der Grat ist, auf dem Gurgel dabei wandert, zeigt sich 2010. Auf der Olympiastrecke im kanadischen Whistler kommt ein georgischer Rodler am Tag der Eröffnungsfeier ums Leben. Bei Tempo 144 verliert er die Kontrolle über seinen Schlitten und knallt gegen einen Pfosten.
Die Tragödie ruft sofort Kritik an der Streckenplanung hervor. Gurgel verteidigt sich damals, verweist auf die vielen Simulationen vorab und spricht von einer Verkettung unglücklicher Umstände. Auch heute sagt er noch: „Alles, was wir bauen, wird 50 Mal durchgerechnet.“ Auch Fahrfehler, Stürze und zu hohe Geschwindigkeiten werden in die Kalkulationen einbezogen. Vorhersehbar ist aber trotzdem nicht alles.
Als Konsequenz aus dem Unglück in Kanada wird die Olympiabahn in Sotschi entschärft. Sicherheit statt Schnelligkeit heißt die Formel. Zumal nicht nur die Konstruktion des Eiskanals über dessen mögliche Gefahr bestimmt. Auch das Material der Athleten entwickelt sich rasant weiter. Heutige Hightech-Schlitten und -Bobs erreichen Geschwindigkeiten, die beim Entwurf so mancher Bahn nicht möglich erschienen.
Deswegen ist Gurgel mit seinem Team in den vergangenen Jahren verstärkt mit dem Umbau älterer Bahnen befasst. Derzeit laufen drei Projekte gleichzeitig. „In Lettland soll die Rodelbahn für Bobs fit gemacht und in Calgary ein neuer Start gebaut werden“, erzählt der Ingenieur. Hinzu kommt noch die Bahn, mit der Gurgel ganz besonderen Erinnerung verbindet: Altenberg. Dort müssen die Kurven überarbeitet werden. „Wenn es gut läuft, fangen wir damit im kommenden Jahr an“, sagt der 80-Jährige. An seinem Lebenswerk aus Eis und Beton arbeitet Udo Gurgel also noch fleißig weiter. (mz)
