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Rainer Schulze Rainer Schulze: Hinter den sieben Bergen

Von Christian Eger 08.03.2002, 16:27

Wernigerode/MZ. - Schulze, die Brille auf der Stirn, nipptTee und prüft sein Gegenüber. Puppenstuben-Wärmeatmet hier alles, die Aura schöner kleinerDinge. Drei Stühle, ein Sofa, ein aufpolierterTisch. Regalmeter Lexika in Leder und Goldschnitt,Stiche und Aquarelle dichtgehängt an der weißgekalktenFachwerkwand. "Was sich so ansammelt in einerBuchhandlung, die 125 Jahre alt ist", sagtSchulze. 1876 gegründet, kaufte sein GroßvaterPaul 1906 die "Jüttnersche Buchhandlung".Der alte Name blieb, die gute Lage auch: Westernstraßeam Markt.

Rainer Schulze ist 55 Jahre alt, verheiratet,keine Kinder, ein Mann, der nicht in Wernigerodelebt, weil ihn die spitzige Architektur desOrtes in ein ständiges Entzücken versetzt."Heimat? Nein, das ist ein zu großes Wort",sagt er. "Ich lebe hier, weil ich hier meineWurzeln habe. Lieber rede ich vom Zuhausesein."Kleinstaaterei sei dieses Denken in Bundesländern,ein Fall für Theoretiker, so einer sei ernicht. "Mich interessieren Dinge, die ichselbst beeinflussen kann."

In Wernigerode interessiert Rainer Schulzeoffenbar alles. Nicht, dass er nur eine Buchhandlungführt, die schlägt als Herz des literarischenLebens vor Ort, mit drei Häusern in Wernigerodeund einem in Ilsenburg. Rainer Schulze istzudem Verleger und Herausgeber der "WernigeröderZeitung", einem Heimat-bewegten Zwei-Wochenblattvon 28Seiten, das bis hin nach Australienvon 2500 Abonnenten lebt. Das reicht nicht.

Schulze ist SPD-Mann in einer SPD-regiertenStadt und Vorsitzender der Stadtratfraktionvon 15Genossen; er ist der Chef des WernigeröderKunst- und Kulturvereins. Und er ist Kabarettist -als Sänger am Piano. In der DDR veröffentlichteer zwei Langspielplatten, zusammen mit WolfgangSchaller und Wolfgang Stumph von der Dresdner"Herkuleskeule", seit 1990 mit Schaller allein.Vor wenigen Tagen erschien die CD "Das Kabarettist tot. Eine fröhliche Leichenfeier". Einstpassierten Schulze, Stumph & Schaller offizielldie deutsch-deutsche Grenze. Ost-west-kompatiblesPolittheater. Muss Kabarett nicht ätzen, HerrSchulze? "Von Zeit zu Zeit, ja, mich interessiertaber mehr das ambivalente Mittelding." Dassorgte zuletzt für sieben ausverkaufte Konzertevor Ort. Ein Hans Dampf also, weltberühmtin Wernigerode. Künstler in einer Stadt, diedafür bekannt ist, dass sie Künstler nichtgerade umarmt.

Nach dem Ersten Weltkrieg gründete SchulzesGroßvater die erste Galerie in Wernigerode,das ging schief. Ein Theater gibt es in Wernigerodebis heute nicht. Weil es den Leuten nichtfehlt, sagt Schulze, anders als in Goslaroder Blankenburg. Das hat Gründe. Von 1528an ist Wernigerode fast aller 100 Jahre einmalgründlich abgebrannt. Jedesmal wurde es kleinerund kleinlicher. Bis das große Wernigerodeim Schatten des großmannssüchtigen Quedlinburgsversank. Diese Stadt, sagt Rainer Schulze,sei reich, mächtig und berühmt, aber durchausnicht freundlicher. Die Wernigeröder setztenauf Fleiß aus Armut, das prägt. Trotzdem sorgthöchstens der Rundfunkjugendchor für überregionaleSchlagzeilen. Oder die rechtsradikale Szene,die Anfang der 90er Jahre die "Bunte Stadtam Harz" zum braunen Hauptquartier ausbauenwollte.

Warum der Straßenterror 1995 aus der Stadtverschwand, ist auch Rainer Schulze ein Rätsel.Dass er ihr Verschwinden vorangetreiben hat,liegt auf der Hand. Er hat für einen Jugendclubgesorgt, der die Skins sammelte, hat Zeichengesetzt, wo es notwendig schien. In der Stadt,die sich zunächst schwer tat mit vietnamesischenHändlern, widmete er die Zehn-Jahres-Ausgabeseines Wochenblattes allein einer Reise nachHanoi. p>Weiterlesen