Pyolysin-Salbe Pyolysin-Salbe: Aufschrei nach Urteil von Stiftung Warentest

bernburg/MZ - Ausgelassen toben die fünf Kinder über den Hof, da gerät ein Junge ins Stolpern und stürzt auf den Betonboden. Das Geschrei ist groß, der Schmerz an den aufgeschürften Händen und Knien nicht minder. Die herbeieilenden Eltern wissen, was nach ersten tröstenden Worten zu tun ist: die Schürfwunden vorsichtig säubern und zur Beruhigung des Sprösslings ein Pflaster drauf. Und falls sich die Wunde durch Schmutz trotzdem entzündet, wird zur Heilsalbe Pyolysin aus der Hausapotheke gegriffen.
Die Wundsalbe Pyolysin ist 1948 in Dessau entwickelt worden. Sechs Jahre später wurde die Produktion ins Serumwerk Bernburg verlagert, wo sie seitdem hergestellt wird.
Nach Unternehmensangaben werden jährlich etwa eine halbe Million Tuben des rezeptfreien Arzneimittels verkauft, zu 95 Prozent in den neuen Bundesländern.
Für einen verstärkten Markteintritt im Westen wären massive Ausgaben für Werbung notwendig, die sich aber wegen des geringen Verkaufspreises von unter fünf Euro nicht rechnen würden.
Auch wegen des Preises entfällt vom Jahresumsatz des Serumwerkes, der bei rund 70 Millionen Euro liegt, nur knapp eine Million Euro auf den Pyolysin-Verkauf.
Die Wirkungsweise der antibiotikafreien Wundsalbe basiert auf der Lehre des französischen Biologen Besredka. Er hatte schon 1927 entdeckt, dass lokale Infektionen durch Kulturfiltrate aus abgetöteten Bakterien der gleichen Keimart behandelt werden können.
Neben diesem antibakteriell wirkenden Kulturfiltrat enthält Pyolysin schmerzstillende Salicylsäure und wundheilungsförderndes Zinkoxid.
Laut Hersteller eignet sich die Salbe für die Behandlung von Wunden jeglicher Art, aber auch von Akne.
So oder so ähnlich hat sich die beschriebene Szene in den vergangenen Jahrzehnten wohl unzählige Male zwischen Ostsee und dem Erzgebirge abgespielt. Jetzt aber soll Pyolysin, fester Bestandteil fast jeder ostdeutschen Hausapotheke, „wenig geeignet zur Behandlung von Wunden und zur Wundpflege“ sein? Zu diesem Schluss kommt jedenfalls die Stiftung Warentest nach ihrer jüngsten Überprüfung von mehr als 2.000 rezeptfreien Arzneimitteln. Die Wundsalbe aus dem Serumwerk in Bernburg (Salzlandkreis) steht nicht allein da: Nach Angabe der Tester erfüllt fast ein Drittel der Präparate nicht seinen Zweck.
„Das ist ein seriös zugelassenes Arzneimittel, das hier als Glaubenspräparat dargestellt wird“
Beim Hersteller, der Pyolysin seit fast 60 Jahren in unveränderter Mixtur in Bernburg produziert, sorgt das Ergebnis für Kopfschütteln. „Das ist ein seriös zugelassenes Arzneimittel, das hier als Glaubenspräparat dargestellt wird“, sagt Frank Kilian, Prokurist des Serumwerkes. Dabei habe sich die Salbe millionenfach bewährt. Daher sind viele Menschen aufgeschreckt. „Seit der Veröffentlichung des Testurteils klingeln bei uns die Telefone heiß. Viele Patienten können die Bewertung - wie wir auch - nicht nachvollziehen“, berichtet Rosemarie Weidhase, Vertriebsleiterin im Serumwerk.
Die Wirkung der Salbe belegt auch eine kontrollierte klinische Studie, die das Unternehmen 2003 in Auftrag gegeben hatte, um vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine sogenannte Nachzulassung zu erhalten. 2008 wurde diese dann auch erteilt. Zugelassen war Pyolysin bis dahin freilich auch gemäß dem Arzneimittelgesetz der DDR.
Pyolysin wirkt ähnlich gut wie eine Salbe auf Jod-Basis
Für die Studie aus dem Jahr 2003 wurden jeweils 29 Patienten, die unter einem „offenen Bein“ litten, entweder mit Pyolysin oder Betaisodona – einer Salbe auf Jod-Basis – behandelt. Der Erfolg war ähnlich: Innerhalb von drei Wochen verringerte sich die Oberfläche der Wunde um 71 (Pyolysin) beziehungsweise 78 Prozent (Betaisodona). Besonders auffallend war das Ausmaß der Schmerzlinderung, unerwünschte Nebenwirkungen gab es dagegen nicht.
Doch trotz dieser Studie behauptet die Stiftung Warentest, Pyolysin sei nicht „mit einer anderen erwiesenermaßen wirksamen Substanz verglichen“ worden und auch nicht mit einem Placebo. Letzteres aus gutem Grund, wie Rosemarie Weidhase verdeutlicht: Der Einsatz von Placebos werde in der Regel vom BfArM als unethisch abgelehnt. Dies gelte insbesondere für die Indikation eines „offenen Beines“. Hier sei es davon betroffenen Patienten nicht zuzumuten, mit einem wirkungslosen Scheinmedikament behandelt zu werden.
Stiftungwarentest bewertet Salbe mit vergleichbarer Wirkung besser
Seltsam: Die Stiftung Warentest unterzog auch Betaisodona einer Überprüfung und bewertet das Präparat als „geeignet“ – eben jene Salbe, die in der klinischen Studie fast den gleichen Behandlungserfolg erzielte wie Pyolysin. Die Tester begründen das damit, dass die Bernburger Heilsalbe eine nicht sinnvolle Mixtur enthalte. So solle Salicylsäure das Eindringen des Pyolysins in die Haut erleichtern, was bei Wunden jedoch nicht nötig sei. Außeracht lassen die Tester indes, dass die Wundsalbe auch für Hautentzündungen jeglicher Art wie etwa Akne empfohlen wird. Und Stiftung Warentest geht auch nicht auf die eigentliche Wirkung der Salicylsäure ein: Sie wirkt schmerzstillend, wie Oliver Ploss, Lehrbeauftragter für Homöopathie und Anthroposophie an der Universität Münster, in einem Fachbeitrag für ein Naturheilkunde-Journal beschreibt.
Neu ist das nicht: Salicylsäure, der Saft der Weidenrinde, wurde schon im antiken Griechenland gegen Fieber und Schmerzen aller Art eingesetzt und ist Basis für das weltweit bekannteste Schmerzmedikament: Aspirin. Ein Blick in die Methodik von Stiftung Warentest offenbart aber: Wird die Zweckmäßigkeit der Mischung als negativ beurteilt, „erübrigt sich ein Wirksamkeitsnachweis“, heißt es in den Bewertungsgrundlagen.
Bislang noch keine Studie mit Kindern
Für Frank Kilian steht fest: „Normalerweise müsste hier das BfArM als zuständige Behörde reagieren, weil die Stiftung Warentest die Zulassung in Frage stellt.“ Wie streng die Kriterien seien, belege die Tatsache, dass die Wundsalbe für Kinder unter zwölf Jahren nicht zugelassen worden ist, obwohl sie von Millionen Eltern in der Praxis angewendet wurde und wird. Der einfache Grund: Das Serumwerk hat bislang keine belastbare Studie mit Kindern vorgelegt. Dies werde nun angestrebt, allerdings sei es sehr schwierig, die notwendigen 120 kleinen Patienten zu gewinnen, weil unter anderem die Zustimmung beider Elternteile nötig sei. Bislang gebe es erst 15 Probanden.
Maik Pommer, Sprecher des BfArM, sagt der MZ, dass von seiner Behörde grundsätzlich Wirksamkeit, Sicherheit und pharmazeutische Qualität aller Präparate gemäß Arzneimittelgesetz überprüft und diese nur zugelassen werden, wenn der Nutzen die Risiken überwiegt. Das treffe natürlich auch auf Pyolysin zu. Auch nach der Marktzulassung würden sämtliche Medikamente durch das Institut überwacht und bei Bekanntwerden neuer Risikolagen mit Indikationseinschränkungen versehen oder gar vom Markt genommen. Auf diese Kontrollmechanismen könnten sich die Patienten verlassen. Sämtliche Nebenwirkungsberichte seien auch auf der Internetseite des Instituts einzusehen, erklärte Pommer.
Keine Kontaktaufnahme mit dem Hersteller, wie sonst bei den Warentests üblich
Auf MZ-Nachfrage teilt die Stiftung Warentest mit, dass die Beurteilung auf „öffentlich zugänglicher, qualitätsorientierter Literatur“ basiere. So beziehe sie ihr Wissen unter anderem aus einer Fachinformation des Serumwerkes über die Salbe, in der es heißt, Pyolysin werde empirisch angewendet. „Dies legt nahe, dass sich die Zulassung vor allem auf erfahrungsmedizinisches Material stützt und ein Nutzennachweis im Sinne der Methodik der Stiftung Warentest auch aus Sicht der Zulassungsbehörde offenbar nicht erbracht ist“, sagt Sprecherin Johanna Lederer.
In jener Fachinformation, deren Inhalt vom BfArM überprüft wurde, heißt es weiter, dass die Patienten der Studie gleichzeitig eine Standardtherapie mit Wundreinigung und Kompression erhielten. Deshalb könne weder eine wundheilungsfördernde noch hemmende Eigenschaft von Pyolysin gefolgert werden. Im Gegensatz zu klassischen Warentests der Stiftung sei bei der Arzneimittel-Bewertung allerdings vor Veröffentlichung des Testurteils keine Kontaktaufnahme mit den Herstellern vorgesehen, um etwaige Unklarheiten zu beseitigen, räumt die Stiftungssprecherin ein.
„Diese Bewertung ist eigentlich eine Farce.“
Für den Prokuristen des Serumwerkes steht fest: „Diese Bewertung ist eigentlich eine Farce.“ Er ist sich sicher, dass Patienten, die bisher gute Erfahrungen gemacht haben, sich davon nicht beeinflussen lassen. Rechtliche Schritte ziehe das Unternehmen deshalb auch gar nicht in Erwägung.
Frank Kilian selbst, das gibt er zu, kannte Pyolysin vor seiner Tätigkeit im Serumwerk überhaupt nicht - wie sein gesamter Freundes- und Familienkreis in den Altbundesländern. „Ich habe dann mal ein paar Tuben verteilt und erhalte jetzt ständig Nachbestellungen, weil alle so von der Wirkung begeistert sind.“
